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Zwei Jahre Revolution in Tunesien

Von Sidi Bouzid nach Siliana

Analyse

Zwei Jahre nach Beginn ihrer Revolution ist vielen Tunesiern kaum nach Feiern zumute. Islamistische Schläger, Verfassungspoker und die zunehmend autoritären Tendenzen werden besonders für die regierenden Islamisten von Ennahda zum Problem.

Kaum jemand hätte es sich vorstellen können, dass ein Akt der Verzweiflung eines frustrierten Obst- und Gemüseverkäufers im tunesischen Hinterland ein Meilenstein in der Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts bedeuten würde. Und doch, zwei Jahre ist es her, dass sich der 26-jährige Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt im tiefsten, wirtschaftlich benachteiligten Süden des Landes, 200 Kilometer von der Hauptstadt Tunis entfernt, selbst anzündete und damit Proteste auslöste, die zum unerwarteten Sturz des tunesischen Regimes führten.

 

Der Willkür des Staatsapparates ausgesetzt, ohne Zukunftsperspektive und durch eine Ohrfeige einer Polizistin öffentlich gedemütigt, übergießt er sich vor dem Sitz des Gouverneurs, dem örtlichen Vertreter der Zentralregierung, mit Lösungsmittel und zündet sich an. Die Bilder der Verzweiflungstat eines jungen Mannes, der kein Held sein wollte, sondern das Elend der Diktatur nicht mehr ertragen konnte, gingen um die Welt.

 

Zuerst wurde er zu Unrecht zu der Masse von arbeitslosen Akademikern gezählt, die später in der Hauptstadt protestierten, dabei hatte er gerade mal einen Schulabschluss. Aber das Schicksal Bouazizis fand seinen Nachhall, denn  junge Menschen ohne Jobaussichten im ganzen Land können sich mit ihm identifizieren. Die Bilder von Ben Ali am Krankenbett des von oben bis unten bandagierten Sterbenden läuteten den Anfang vom Ende des Regimes ein.

 

Der Fall des seit 23 Jahren regierenden Präsidenten wurde zum Vorbild für Proteste in arabischen Ländern wie Ägypten, Libyen, Jemen, Marokko, Syrien und Bahrain, aber auch für die »Indignados« in Spanien und die »Occupy Wall Street«-Bewegung in den USA. Die Bürger Tunesiens setzten große Hoffnungen in ihre Revolution – Arbeit, Freiheit und Würde waren ihre Forderungen. Was ist davon, zwei Jahre nach Beginn der Revolution, noch übrig?

 

Am 17. Dezember kamen sie fast alle zum Geburtsort der Revolution, Tunesiens Übergangspräsident Moncef Marzouki und Mustapha Ben Jaafar, Präsident der verfassungsgebenden Versammlung und andere hochrangige Funktionäre. Doch kamen sie vor allem mit Versprechen. Denn, so sagte Marzouki: »Wir haben es hier mit den Nachwirkungen von 50 Jahren Diktatur zu tun, die wir nicht in 12 Monaten beseitigen können.«

 

Als Antwort hagelte es auf dem Festplatz Steine und Tomaten und ein Großteil der 5.000 auf dem Platz versammelten Menschen rief »Das Volk will den Sturz des Regimes«, und »Dégage! – Hau ab!«, die Schlachtrufe des Aufstands von 2011.

 

Rezession statt Revolution in der Keimzelle des Protestes

 

In der Tat sind viele Tunesier von der gegenwärtigen Politik und vor allem dem langsamen Tempo der wirtschaftlichen Erholung mehr als enttäuscht. Schließlich waren sie vor allem im Süden für mehr Jobs auf die Straße gegangen und hatten dafür ihr Leben riskiert. Doch der Lohn der Mühen ist, so scheint es, eine stetig steigende Arbeitslosigkeit. Ausländische Investoren warten auf ein besseres politisches Klima.

 

Nach Angaben des tunesischen Industrieministeriums gingen die Investitionen in der Region um Sidi Bouzid in den ersten 11 Monaten des Jahres im Vergleich zum gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor um 36 Prozent, und die Zahl der Arbeitsplätze um 24,3 Prozent zurück. Landesweit gelten laut Nationalem Statistikinstitut 17,6 Prozent als arbeitslos, mit einem großen Gefälle zwischen den Geschlechtern und zwischen den Küstenstädten und dem Hinterland.

 

Daraufhin kam es in den letzten Monaten zu Protesten, die in Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei mündeten, zum Beispiel in Siliana, einer Kleinstadt rund 120 Kilometer südwestlich von Tunis. Dort wurden die zunächst friedlichen Proteste gegen den als korrupt geltenden, von der Zentralregierung im Februar ernannten, Gouverneur brutal niedergeschlagen. Durch Tränengas, Gummikugeln und Schrotflinten wurden mehr als 300 Personen teilweise schwer verletzt.

 

Dabei war das Vorgehen der Sicherheitskräfte so brutal, dass selbst die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Navi Pillay, den Einsatz rügte und die Regierung mahnte, »sicherzustellen, dass die Sicherheitskräfte die exzessive Gewalt gegen Demonstranten einstellen«. Derartige Gewaltexzesse unter den Augen der Troika ist besonders überraschend, da deren Anführer in der Vergangenheit selbst Opfer von Polizeigewalt gewesen waren.

 

Aber im Namen der Stabilität werden heute in Tunesien auch legitime Proteste als illegitim gebrandmarkt und bekämpft, Siliana ist hierfür nur das jüngste Beispiel. Schon vorher hatten die Menschen in Sidi Bouzid gestreikt, um gegen die Inkompetenz des lokalen Gouverneurs und die Verhaftung von Dissidenten anzuprangern. Auch der Ausnahmezustand, der am Tag der Flucht Ben Alis über das Land verhängt wurde und die Befugnisse der Sicherheitskräfte massiv erweitert, ist noch immer in Kraft.

 

Ennahda lässt die »freien Radikalen« gewähren

 

Neben der Enttäuschung über das langsame Tempo des Fortschritts empören sich die Tunesier auch über das verfehlte Krisenmanagement der Troika. So kommt die Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung, für deren erste demokratische Wahl am 23. Oktober 2011 Millionen Tunesier enthusiastisch Schlange gestanden hatten, nur schleppend voran.

 

Da die neue Verfassung aber die rechtliche Grundlage für die nächsten Parlaments- und Kommunalwahlen darstellt, ist unklar, wann ein neues Parlament gewählt wird. Bis dahin gelten die Ergebnisse der Wahl der Konstituante, in der Ennahda 37 Prozent der Sitze hält. Als stärkste Regierungsfraktion steht insbesondere die islamische Ennahda in der Kritik.

 

So schreckt die Partei davor zurück, radikale Islamisten, die in Gruppen wie den »Ligen zum Schutz der Revolution« ihr Unwesen treiben, in die Schranken zu weisen. Der Angriff auf den Sitz der Gewerkschaft UGTT in der Altstadt von Tunis am 4. Dezember geht auf deren Konto, aber sie machten aber auch durch Rachefeldzüge gegen Mitglieder des alten Regimes von sich reden. Während der gemäßigte Flügel Ennahdas, zu dem Premierminister Hamadi Jebali zählt, den Dialog sucht, kämpfen die Abgeordneten der Ennahda in der verfassungsgebenden Versammlung darum, der Verfassung einen islamischen Stempel aufzudrücken.

 

Es wird darum gerungen, ob die Scharia als Hauptquelle für zukünftige Gesetze in der Verfassung festgeschrieben wird oder nicht. Auf der anderen Seite bemüht sich Ennahda, wichtige gesellschaftliche Bereiche im Land unter ihre Kontrolle zu bringen. So traten in der vergangenen Woche zehn Organisatoren des »Festival Bouazizi«, das an den Beginn der ersten Revolution des Arabischen Frühlings erinnert, zurück, mit der Begründung, man wende sich gegen den »Würgegriff« der islamischen Partei bei der Organisation der Veranstaltung.

 

Nach der brutalen Polizeigewalt in Siliana brachte Präsident Marzouki eine aus Technokraten bestehenden Regierung ins Spiel. Ähnliches fordert Béji Caïd Essebsi, der Gründer der Oppositionspartei Nida Tounes, die vor allem Anhänger des alten Regimes versammelt. Doch die Regierungsparteien wollen von alledem nichts wissen, und gerade Ennahda weiß ihre Macht zu schützen.

 

So wurde ein offener Machtkampf zwischen der Partei und der einzig wahren linken Macht im Lande, der UGTT, in der Form eines Generalstreiks, gerade noch abgewendet. Zwei Jahre nach der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi, vierzehn Monate nach der ersten demokratischen Wahl, steht das Land vor großen Herausforderungen. Die Tunesier haben gelernt, lautstark für ihre Interessen einzutreten. Nun muss daraus eine neue politische Kultur erwachsen, die dem Pluralismus innerhalb der Bevölkerung Rechnung trägt.

Von: 
Johanne Kübler

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