Lesezeit: 7 Minuten
Wirtschaftliche und humanitäre Lage der Sahrawis

Sahrawis im Treibsand

Feature
von Anita Hunt

Die wirtschaftliche und humanitäre Lage der Sahrawis in der besetzten Westsahara bleibt desaströs, die lokale UN-Mission ist kaum in der Lage, die Symptome des Konflikts zu bekämpfen. Die Eskalation in Mali erhöht den Handlungsdruck.

Über die vergangenen fünfzig Jahre hat sich die Welt in vielerlei Hinsicht verändert. Die Weltbevölkerung hat sich verdoppelt und mehr als die Hälfte von ihnen wurde geboren, nachdem die Vereinten Nationen 1965 verlangten, Spanien solle das Gebiet der Westsahara entkolonisieren. Doch Spanien, das seit dem späten 19. Jahrhundert als Besatzungsmacht agierte, wollte sein letztes Kolonialgebiet in Afrika nicht einfach aufgeben.

 

Über die nächsten sieben Jahre war die spanische Forderung, ein Referendum über den Verbleib der Westsahara unter der spanischen Krone zu organisieren, ein fixer Punkt auf der UN-Agenda. Um den politischen Stillstand zu überwinden, bedurfte es mehr als diplomatischer Grabenkämpfe: 1973 gründete sich mit der Frente Polisario eine Gruppe, die den Tempowechsel forcierte – durch das lautstarke Einfordern der Menschenrechte für die lokale Sahrawi-Bevölkerung und die militärische Konfrontation mit Spanien.

 

Die kommenden Monate schienen ihnen Recht zu geben: kaum ein Jahr später fand der erste Zensus statt und Hoffnungen kamen auf, eine endgültige Lösung des Konfliktes wie auch die Unabhängigkeit der Westsahara stünden unmittelbar bevor. Wünsche, die bitter enttäuscht wurden, als Marokko und Mauretanien die Spanier 1976 als Besatzungsmacht ersetzten und den militärischen Druck auf die Sahrawis erhöhten. Mehr und mehr wurden lokale Bevölkerungsgruppen vertrieben oder in Wüstengebiete umgesiedelt, viele flohen nach Algerien.

 

Sie wurden Opfer eines geopolitischen Wettbewerbs zwischen Marokko, das seine Territorialansprüche bis heute behauptet, und Mauretanien, das gezwungen war, sich zurückzuziehen. In dieser Lage befinden sich die Sahrawis bis heute: Gefangen hinter einem 2700 Kilometer langen, von Sand überzogenen und mit tausenden Landminen übersäten Landstreifen, meist marokkanischer Sandwall oder »Berm« genannt, bewacht von 100.000 marokkanischen Soldaten und kritisch beäugt von der UN-Friedensmission MINURSO, die seit 1991 die Einhaltung des Waffenstillstands überwacht. Obwohl das marokkanische Königreich offiziell seine Unterstützung des Vertrags zum Verbot von Landminen geäußert hat, wurde der »Berm«-Streifen nicht in das Abkommen zwischen MINURSO und Marokko aufgenommen, obwohl beide Seiten sich zur Kooperation bereit erklärt hatten.

 

Lage in Mali erfordert rasches Handeln

 

Alle größeren Städte und sämtliche Wirtschaftszentren liegen im westlichen, von Marokko besetzten Teil des Landes. Investoren haben kaum Anreize, im Osten des Landes aktiv zu werden, Abwanderung aus den betroffenen Gebieten ist die direkte Folge, obwohl die Westsahara reich an Phosphaten und Öl ist – selbst der Sand ist eine wichtige Ressource. Regelmäßig werden Produkte aus den besetzten Gebieten als »Made in Morocco« verkauft, eine Praxis, die Aktivisten in den vergangenen Jahren mit Erfolg kritisierten.

 

Vielfach sind Sahrawis noch immer auf humanitäre Hilfe und das Wohlwollen fremder Regierungen angewiesen, während der Wohlstand ihres Landes nach Marokko fließt. Schätzungen zufolge leben zwischen 90.000 und 165.000 Menschen in fünf Flüchtlingslagern, deren Gründung bereits mehr als 30 Jahre zurückliegt. Eine verlässliche Volkszählung in diesen Camps würde den Weg zu dem Referendum ebnen, das bereits vor Jahrzehnten versprochen wurde und würde die Lebensbedingungen deutlich verbessern.

 

Marokkanische Behörden gehen von deutlich weniger Einwohnern aus als ihr sahrawisches Gegenüber, in vielerlei Hinsicht sind die Lager auf einem Stand von vor 30 Jahren. Hinzu kommt, dass der Wall auch viele Familien geteilt hat – die Nachfrage nach den von MINURSO organisierten Familienzusammenführungen übersteigt das Angebot bei weitem.

 

Die Menschenrechtsverstöße gegen die Sahrawi-Bevölkerung, die Aktivisten und internationale Organisationen im Laufe der Jahre verzeichnet haben, sind umfangreich: Bombardierungen aus der Luft, den Einsatz von weißem Phospor, willkürliche Verhaftungen, Folter und Vergewaltigungen. Infolge der Niederschlagung eines Protestes in El Ayoune am 10. November 2010 durch die marokkanische Armee verlangten mehrere UN-Gesandte die Ausweitung des MINURSO-Mandats.

 

Dass die Westsahara in diesen Wochen wieder größeren Raum auf dem internationalen Parkett einnimmt, liegt an der politischen Entwicklung Malis. Nachdem die Rebellenbewegung MNLA im Norden des Nachbarlandes ihren eigenen Staat ausgerufen hatte, warfen Analysten einen genaueren Blick auf die Bande zwischen Tuareg-Rebellen, in der gesamten Region aktiven Islamisten und der Polsario. Gegenwärtig vermutet man drei, im Oktober 2011 aus dem Tindouf-Camp entführte Entwicklungshelfer in den Händen einer dieser Gruppen.

 

Viele der Sahrawi-Rebellengruppen finanzieren ihre Kampagnen durch Entführungen, Menschen- oder Drogenhandel. Dass die UN angesichts der sich rasch entwickelnden Lage in Mali nicht willens zeigt, für die Lage der Sahrawis einzutreten, treibt in diesen Tagen viele frustrierte Jugendliche in die Arme bewaffneter Gruppen.


Anita Hunt,

 

 

ist Journalistin und Online-Aktivistin mit Schwerpunkt auf dem Nahen Osten und Nordafrika. Sie betreibt den Blog http://lissnup.wordpress.com, der als einige von wenigen Seiten regelmäßig und detailliert über die innenpolitische Lage in Mauretanien berichtet.

Von: 
Anita Hunt

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.