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Wenn der kleine Bruder in Wirklichkeit der eigene Sohn ist

Sexualmoral in Indonesien

Feature

Unverheirateten Schwangeren in Indonesien droht soziale Ächtung und trotzdem finden sie ihren Platz in der Gesellschaft. Silke Schwarz hat in einer Studie über javanische Frauen untersucht, wie das geht.

Von javanischen Frauen wird erwartet, dass sie als Jungfrauen in die Ehe gehen – eine uneheliche Schwangerschaft und ein sich aus dem Staub gemachter Erzeuger sind mithin nicht nur eine persönliche, sondern auch eine soziale Katastrophe. Wie gehen betroffene Frauen, die sich zudem gegen eine Abtreibung entschieden haben, mit ihrer Schwangerschaft und der darauf folgenden Mutterschaft um, wie reagiert die Gesellschaft?

 

Vorehelicher Geschlechtsverkehr und uneheliche Schwangerschaft sind weitgehend tabuisierte Themen in Indonesien, die bisher allenfalls als gern beschwörte gesellschaftliche Horrorvision von westlich-liberalem »free sex« als Synonym für hemmungslos egoistische, rein triebgesteuerte Verantwortungslosigkeit Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden haben.

 

Natürlich können auch in Indonesien gesellschaftliche Tabuisierung und religiöse Verbote sexuelle Aktivität unter jungen, noch unverheirateten Menschen nicht verhindern. Doch was passiert mit jungen Frauen, die nach vorehelichem Geschlechtsverkehr schwanger werden?

 

Angesichts der enormen sozialen Stigmatisierung unehelicher Mutterschaft wundert es kaum, dass die betroffenen Frauen es vorziehen, so weit wie möglich unsichtbar und unerkannt zu bleiben. Entsprechend wenig ist über ihre Erfahrungen bekannt. Silke Schwarz konnte das Vertrauen von fünf Frauen, von denen vier in der zentraljavanischen Sultans- und Studentenstadt Yogyakarta leben, gewinnen und führte im Rahmen ihrer Diplomarbeit lange Gespräche mit ihnen. Ihre nun unter dem Titel »Selbstbestimmung trotz Tabu?

 

Uneheliche Schwangerschaft und Sexualität aus weiblicher Sicht auf Java, Indonesien« erschienene Studie eröffnet einen intimen Einblick in die Erfahrungen der betroffenen Frauen. Da der Schwerpunkt auf der Frage lag, wie mit einer schambehafteten und tabuisierten Situation umgegangen wird, ist allen Gesprächspartnerinnen gemein, dass sie unehelich schwanger und dann von ihrem Freund verlassen wurden. Alle hatten sich gegen zum Teil erheblichen sozialen Druck dazu entschieden, das Kind trotzdem auszutragen.

 

MBA – Married By Accident

 

Kommt es zu einer vorehelichen Schwangerschaft, drängt die Familie der Frau üblicherweise den angehenden Vater dazu, die Verantwortung zu übernehmen und seine Partnerin zu heiraten. Indonesier sprechen hier von MBA – damit ist nicht der Master of Business Administration gemeint, sondern das weit weniger rühmliche »Married By Accident«. So genannte »Sieben-Monats-Kinder« sind entsprechend häufig.

 

Aus javanisch-pragmatischer Sicht zählt jedoch der aktuelle Status, »MBA« stellt somit eine gesellschaftlich akzeptable Lösung dar. Häufig macht sich der Mann jedoch aus dem Staub, nachdem sein Drängen auf eine Abtreibung nicht erfolgreich war. Abtreibungen sind in Indonesien illegal, erlaubt sind sie nur, wenn die Gesundheit der – wohlgemerkt verheirateten – Mutter auf dem Spiel steht.

 

Unverheiratete Frauen haben keinen Zugang zum reproduktiven Gesundheitswesen, Kenntnisse über sichere Verhütungsmethoden sind rar. Schätzungen sprechen von um die zwei Millionen illegalen Abtreibungen pro Jahr, unter zumeist gesundheitlich hochriskanten Bedingungen.

 

Ohne Ehemann wird auf der Geburtsurkunde eines Kindes zudem nur der Name der Mutter eingetragen – das Kind bleibt sein Leben lang als vaterloses »anak haram – verbotenes Kind«, sozial stigmatisiert. Gesetze oder Regelungen zu Unterhaltsverpflichtungen gibt es nicht. Auch die Ex-Partner der von Schwarz interviewten Frauen haben sich der finanziellen Mitverantwortung entzogen.

 

Um die Schande einer unehelichen Geburt zu vermeiden und dem Kind zumindest auf dem Papier einen offiziellen Vater zu sichern, werden von ihrem Partner verlassene Schwangere von ihren Familien und Nachbarn oft dazu gedrängt, einen ihnen angebotenen heiratswilligen Mann zu ehelichen. Einige Frauen gehen darauf ein, oft aber nur, um sich bald nach der Geburt des Kindes wieder scheiden zu lassen.

 

Angesichts der allgemeinen Erwartung, dass Frauen jungfräulich in die Ehe gehen sollten, wäre es interessant gewesen, mehr über die Männer zu erfahren, die bereit sind, eine Frau zu heiraten, die nicht nur, wie öffentlich bekannt, keine Jungfrau mehr ist, sondern auch noch das Kind eines anderen Mannes in sich trägt – macht sich der Mann damit nicht auch zum Gespött der Nachbarschaft? Oder ist es die Aussicht, für die »gute Tat« entsprechend hohe finanzielle »Entschädigungen« von der Familie der Braut einfordern zu können, die ihn einer solchen arrangierten Ehe zustimmen lässt?

 

Erst Ende Februar dieses Jahres wurde das Gesetz zugunsten unehelicher Kinder geändert: Kann der biologische Vater etwa durch einen DNA-Test nachgewiesen werden, wird sein Name in die Geburtsurkunde des Kindes eingetragen, auch Unterhaltsverpflichtungen können geltend gemacht werden.

 

Welchen tatsächlichen Einfluss diese Änderung auf das Schicksal unehelicher Kinder haben wird und in wie weit es gerade auch den ärmeren Frauen, die ganz besonders auf Unterhaltsbeiträge angewiesen sind, im korrupten Justizsystem Indonesiens möglich sein wird, einen unwilligen Kindesvater zur Verantwortung zu ziehen und die Erfüllung seiner rechtlichen Pflichten einzufordern, bleibt fraglich. Kritik kommt bereits von orthodox-islamischer Seite, die in dem Beschluss des Obersten Gerichtshofes einen Freifahrtschein für unehelichen Sex sehen.

 

 

Lügen zur Wahrung von Ehre und sozialer Harmonie

 

So sehr eine uneheliche Schwangerschaft im muslimisch geprägten Java eine persönliche Katastrophe mit gravierenden sozialen Konsequenzen darstellt, so sehr es auch hier nicht nur um die Ehre der »gefallenen Frau«, sondern vor allem auch um die Ehre und das Ansehen der Familie geht: um ihr Leben fürchten muss keine der Frauen – westliche Leser, die hier nach einer erneuten Bestätigung für vermeintlich »islamische« Grausamkeit suchen, werden enttäuscht sein, denn Ehrenmorde sind in diesem Teil der islamischen Welt unbekannt.

 

So lange der äußere Schein gewahrt bleiben kann, übersieht und toleriert man vieles, zumindest vor den betroffenen Personen. Alle Frauen waren sich während der Schwangerschaft ihrer moralischen Verurteilung durch die Nachbarschaft bewusst, in der direkten Interaktion jedoch wurden sie so gut wie nie auf ihren unübersehbaren Zustand angesprochen.

 

Die gesellschaftliche Präferenz für allseits akzeptable Kompromisse – notfalls auch mit der »Wahrheit« – , so lange die äußere Harmonie und Ordnung nicht explizit in Frage gestellt wird, erlaubt den Frauen zudem die Konstruktion »sozial akzeptabler Wirklichkeiten« für das Leben nach der Schwangerschaft. So gibt eine Frau ihren Sohn in der Öffentlichkeit als ihren jüngeren Bruder aus – obwohl sie ahnt, dass sich die Wahrheit womöglich schon längst herumgesprochen hat.

 

Aber eine Lüge, von der alle wissen, dass es eine Lüge ist, ist auf Java mitunter leichter in das gesellschaftliche Zusammenleben zu integrieren als ein westliches Pochen auf die nackte Wahrheit und die kompromisslose Einforderung »klarer Verhältnisse«. Außer Zweifel steht jedoch, dass zumindest kurzfristig gesichtswahrende soziale Entlastung oft nahtlos übergeht in enormes individuelles Leiden am aufrechtzuerhaltenden Doppelleben.    

 

Im Gegensatz zum traditionellen javanischen Mystizismus betont der Islam zwar die persönliche Verantwortung des einzelnen Menschen und verweist auf ein Bewusstsein individueller Schuld. Er erlaubt damit aber auch einen inneren Prozess der Verarbeitung, der sich auf die javanische Unterscheidung zwischen einer oberflächlichen äußeren Welt (»lahir«) und einer davon idealerweise möglichst autonomen innerpsychischen Welt (»batin«) stützt: In der Beziehung zur Gesellschaft bleibt ein tiefes Schamgefühl, doch in der intimen Beziehung zu einem Gott, in der man zwar schuldig geworden ist, Schuld aber auch als menschlich gilt und Barmherzigkeit und Vergebung möglich sind, finden viele der Frauen Halt.

 

Auch die Reinterpretation der unehelichen Schwangerschaft als von Gott auferlegtes Schicksal, als Prüfung, an der man wachsen kann und die einen tieferen, sich erst im Nachhinein eröffnenden Sinn in sich birgt, hilft den Betroffenen bei der Bewältigung ihres Leidens an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die Männern deutlich mehr Freiheiten und sexuelle »Verantwortungslosigkeiten« zugestehen als Frauen.

 

Selbstbestimmung als äußere oder innere Autonomie?

 

Trotz starker sozialer Kontrolle und gerade von Frauen Konformität fordernden gesellschaftlichen Normen haben die von Schwarz interviewten Frauen in ihrer auf den ersten Blick ausweglos erscheinenden Notlage auch eigene Entscheidungen treffen können. Sie erleben sich nicht nur als Opfer, sondern bei aller Schicksalsergebenheit immer auch als aktiv ihr weiteres Leben gestaltende Frauen.

 

Ob aber, wie Schwarz anmerkt, nicht von einer »individuellen Entscheidung« im Sinne der Selbstbestimmung gesprochen werden kann, wenn sich eine Frau für das Einhalten des sozialen Harmoniegebotes entscheidet und dafür eigene Bedürfnisse zurückstellt, bleibt zu hinterfragen. Die im Westen so idealisierte äußere Autonomie in zwischenmenschlichen Beziehungen ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit innerpsychischer Autonomie, auch wenn beides allzu oft miteinander verwechselt wird.

 

Wie unter anderem Katherine P. Ewing in Bezug auf pakistanische Frauen gezeigt hat, muss ein auf den ersten Blick »mutiger« und »widerständiger« äußerer Normenbruch nicht immer auf innerer Unabhängigkeit gründen, sondern kann ebenso auf eine ungelöste Dynamik innerpsychischer konflikthafter Abhängigkeitsbindungen verweisen. 

 

Auch in dieser durch reichhaltiges Material und vielfältige theoretische und empirische Bezüge charakterisierten Studie wird zwischen beiden Ebenen – der Autonomie im zwischenmenschlichen Bereich einerseits und innerpsychischer Autonomie andererseits – nicht immer deutlich genug unterschieden, was wohl dem verwendeten kulturpsychologischen und diskursanalytischen Ansatz geschuldet ist.

 

Wer jedoch neben einem Interesse für das Thema über Verständnis für die Eigentümlichkeiten akademischer Textproduktion und Aufgeschlossenheit gegenüber gendermaingestreamtem Sprachgebrauch verfügt, wird mit einem anregenden, kultursensiblen Einblick in die Lebenswelt javanischer Frauen belohnt.


Selbstbestimmung trotz Tabu?

Uneheliche Sexualität und Schwangerschaft aus weiblicher Sicht auf Java, Indonesien

Silke Schwarz

Regiospectra Verlag, Berlin 2011

258 Seiten, 26,90 Euro

Von: 
Bettina David

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