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Weltsozialforum in Tunis

Getrennt erinnern

Feature

Kurz nach dem Weltsozialforum in Tunis steht der Verkehr rund um die Avenue Bourguiba wieder still. Tunesien gedachte am 9. April seinen Märtyrern aus Kolonialzeit und Revolution, kann sich aber nicht auf ein gemeinsames Gedenken einigen.

Der »Tag der Märtyrer« erinnert ursprünglich an die gewaltsame Unterdrückung von Demonstrationen, die politische Reformen und die Einrichtung eines Parlaments forderten, durch französische Kolonialtruppen am 9. April 1938. Heute wird an diesem Tag auch der Menschen gedacht, die während der Revolution 2011 ihr Leben ließen. Am 9. April 2011, knapp drei Monate nach Ben Alis Flucht, als in vielen Städten noch eine nächtliche Ausgangssperre galt, hatten kleinere Zeremonien schon zu einer Umdeutung des Feiertags beigetragen.

 

Im vergangenen Jahr, schließlich, hatten sich hunderte Tunesier auf der Avenue Bourguiba in Tunis trotz eines Demonstrationsverbots versammelt und waren mit den Sicherheitskräften aneinandergeraten. Die Polizisten, ausgestattet mit Helmen und Schlagstöcken, nutzten damals Tränengas, um die Demonstranten auseinander zu treiben.   Auch 2013 war die Polizeipräsenz massiv, aber diesmal war die Truppe damit beauftragt, die verschiedenen politischen Gruppen voneinander zu trennen. Denn gleich vier verschiedene Demonstrationen rund um Avenue Bourguiba waren angemeldet worden.

 

Die islamische Partei Ennahda versammelte einige hundert Menschen bei einer Veranstaltung vor dem Stadttheater, das sie seit einiger Zeit als Kundgebungsort für sich beansprucht. Ein kleiner Trupp Salafisten und Aktivisten der so »Ligen für den Schutz der Revolution«, eine für ihre Brutalität notorische pro-islamistische Miliz, bewegte sich auf einem Abschnitt der Straße nahe des Innenministeriums hin und her.  Auf der anderen Seite des Boulevards demonstrierten zum einen die Anhänger des linken Parteienbündnis »Volksfront«, dessen Generalsekretär Chokri Belaïd am 6. Februar 2013 ermordet worden war.

 

Zum anderen liefen die Anhänger der Partei »Nidaa Tounes – Ruf Tunesiens« auf, die vom ehemaligen Premierminister Beji Caid el Sebsi gegründet wurde. Offiziell beruft sich die Partei auf das Erbe der antikolonialen Bewegung Destour, allerdings versammeln sich unter ihrem Banner auch viele ehemalige Mitglieder der Partei des alten Regimes, des »Rassemblement Constitutionnel Démocratique« (RCD). 

 

Viele Oppositionsanhänger hadern mit der Allianz mit »Nidaa Tounes«

 

Das Unvermögen, eine gemeinsame Kundgebung auf die Beine zu stellen, um den Märtyrern des Landes zu gedenken, wirft ein Schlaglicht auf die aktuelle politische Trennlinie in Tunesien – auf der einen Seite Ennahda und Salafisten, die im Wesentlichen »Allahu Akbar« skandieren, und auf der anderen Seite alle anderen Parteien, die für die Trennung von Staat und Religion eintreten. Die Polarisierung des politischen Lebens entlang dieser Trennlinie führt zu dem Nebeneffekt, dass sich die politischen Blöcke nur schwer auf dem politischen Spektrum von rechts und links einordnen lassen. 

 
 
Während die Volksfront linke Parteien verschiedener Couleur versammelt, ist insbesondere das Parteienbündnis rund um Nidaa Tounes schwer einzuordnen. Aus wahltaktischen Gründen haben sich »Al-Jomhouri – Republikanische Partei«, »Al-Massar – Der Demokratische und Soziale Weg«, die Sozialistische Partei (PS), und die »Patriotische und Demokratische Arbeiterpartei« (PTPD) zusammengeschlossen, um Ennahda bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 23. Juni 2013 zu besiegen.
 
 
Doch abgesehen von ihrer Aversion gegen Ennahda haben die Parteien des Bündnisses wenig gemeinsam, und viele Anhänger hadern mit dem Zusammenschluss ihrer Partei mit Nidaa Tounes. Sie hat sich bisher noch nicht zu einem Mea culpa für die Jahre unter der Diktatur durchringen können. Die »zentristische, liberale und vereinigende« Partei nimmt Persönlichkeiten der aufgelösten RCD mit offenen Armen auf, »sofern sie sich nicht der Korruption oder Veruntreuung schuldig gemacht haben«.
 
 
Und doch haben die tunesische Bourgeoisie, Führungskräfte und Persönlichkeiten aus der RCD, die sich bei der Vorstellung der neuen Partei im Juni 2012 im »Palais des Congrès« von Tunis versammelten, zumindest vom Regime Ben Alis profitiert. Doch was für eine Wirtschaftspolitik ist von einem Bündnis zu erwarten, dass sowohl die Bourgeoisie, die von dem liberalen Wirtschaftsreformen profitiert hat, als auch die Sozialistische Partei vertritt? Obwohl diese Frage angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage im Land entscheidend sein sollte, dominiert stattdessen der Konflikt über die Rolle der Religion die politischen Diskussionen. 
 

Rückhalt für Ennahda in den konservativen Vierteln der Hauptstadt

 

Die Bedeutung dieses Konflikts wird noch einmal deutlich, als der Verbund um Nidaa Tounes seine Abschlusskundgebung am Bab Souika, einem der Altstadt-Tore von Tunis, abhält. Dieses Arbeiterviertel im Herzen der Medina geriet 1991 in den Schlagzeilen, als ein Angriff auf ein RCD-Büro zum Tod einer der Wachmänner führte, und daraufhin drei Mitglieder Ennahdas für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurden. Noch heute ist das Viertel sehr konservativ, bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung erreichte Ennahda hier 43 Prozent der Stimmen.

 
 
Gegenüber der komplett in tunesische Flaggen gehüllten Bühne versammeln sich die Jugendlichen des Viertels, um gegen die Präsenz von Nidaa Tounes zu protestieren. Am Ende der Veranstaltung, als die Mikrofone der Gegenseite abgebaut sind, machen sie sich ihrem Ärger Luft. Sie provozieren, schwingen eine Fahne von Ennahda, und stimmen den Schlachtruf der Revolution an: »Dégage! –Haut ab!«
Von: 
Johanne Kübler

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