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Wahlsieger Essebsi in Tunesien

Der neue Alte in Tunis

Analyse

Großväterlich, staatsmännisch, zeitlich begrenzt: Der 88-jährige Wahlsieger Essebsi ist der kleinste gemeinsame Nenner des Anti-Ennahda-Bündnisses. Kritik erntet Tunesiens Präsident wegen des Umgangs mit Pressefreiheit und Aufarbeitung.

Der Sieg von Béji Caïd Essebsi bei den ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen am 21. Dezember 2014 in Tunesien ist international begrüßt worden, was vor allem seiner unerbittlichen Gegnerschaft Ennahda gegenüber geschuldet ist. Ennahda, die islamische Partei, die nach der Revolution über 40 Prozent der Stimmen erreicht hatte, hatte schon bei der Parlamentswahl im Oktober eine Klatsche erfahren.

 

Nun ist auch der von ihr inoffiziell unterstützte Kandidat Moncef Marzouki im zweiten Wahldurchgang gescheitert. Nach einem ersten Wahlgang, in dem das Ergebnis knapper ausgefallen war, als Umfragen hatten erwarten lassen, gewann Essebsi mit einem Vorsprung von 11 Prozent – 55,7 Prozent für Essebsi gegenüber 44,3 Prozent für Marzouki. Verglichen mit anderen Ländern in der Region ist der politische Übergang glimpflich ausgegangen.

 

Das Land hat soeben drei Urnengänge durchgeführt, deren Ausgang von den Wahlverlierern anerkannt wurde. Dies ist ein Schritt weiter in Richtung einer Konsolidierung der Demokratie im Land. Und doch kämpft das Land weiter mit der wirtschaftlichen Schieflage, die die Revolution mitausgelöst hatte. Die hohen Arbeitslosenzahlen und der ausbleibende wirtschaftliche Aufschwung spiegeln sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung der zusehends depolitisierten Bevölkerung wider.

 

Waren bei den ersten Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung noch 4.308.888 Wähler an die Urnen geströmt, sind es bei den Parlamentswahlen im Oktober 2014 nur noch  3.579.256, also 729.632 weniger. Wenn man beachtet, dass Ennahda bei den Parlamentswahlen genau 554.286 weniger Stimmen erhielt als 2011, kann man davon ausgehen, dass viele ehemalige Ennahda-Wähler dieses Mal zu Hause geblieben sind.

 

Und obwohl die Präsidentschaftswahlen in den Medien sehr präsent waren, gingen sogar noch weniger Wähler hier zur Wahl, nämlich nur 3.339.666 und schließlich, für die Stichwahl, 3.189.672. Das sind, auf die Zahl der Wahlberechtigten im Jahre 2011 gerechnet, nur noch 38,5 Prozent. Dagegen waren 2011 noch 51,9 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gegangen. Interessant ist auch, dass der neue Präsident seine Wahl vor allem dem Norden und den Küstenregionen des Landes verdankt.

 

Béji Caïd Essebsi ist ein Vertreter der alten politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes, seine Familie entstammt der Oberschicht der Bauern und Grundbesitzer an der tunesischen Küste. In diesen relativ wohlhabenden Gegenden, wo die tunesische Industrie angesiedelt ist und europäische Touristen Urlaub machen, war der Rückhalt für Nidaa Tounes am stärksten. Dahingegen erhielten in den ärmeren, weniger dicht besiedelten Regionen, die die Revolution im Jahre 2011 ausgelöst hatten, Marzouki und andere Kandidaten im ersten Wahlgang mehr Stimmen als Essebsi.

 

Diese Regionen hatten in den Parlamentswahlen auch mehrheitlich für Ennahda gestimmt. Die Menschen, die für Essebsi gestimmt haben, hatten sehr unterschiedliche Beweggründe. Zum einen handelt es sich um Tunesier, denen es unter dem alten Regime von Präsident Ben Ali wirtschaftlich relativ gut ging und sich nach der politischen und wirtschaftlichen Stabilität sehnen, die Béji Caïd Essebsi versprochen hat.

 

Dabei präsentiert sich seine Partei als politisch erfahren, mit dem nötigen Knowhow, um dem Land den früheren Glanz wiederzugeben, wohingegen die Anführer Ennahdas die letzten Jahrzehnte entweder im Gefängnis oder im Exil waren.

 

Essebsi inszeniert sich als Wiedergänger seines Förderers Habib Bourguiba

 

Öffentlich bekennen sich nur wenige zur Zeit unter Präsident Ben Ali, also bedient Essebsi diese Sehnsucht nach der vorrevolutionären Zeit, indem er sich selbst als wie eine Auferstehung des Staatsgründers Bourguiba inszeniert. Nicht nur kopiert er seine Gesten, er stellt sich auch als politischer Erbe Bourguibas dar – in der Tat hatte er schon in den 1950er Jahren unter Bourguiba als Minister gedient, und später als Parlamentssprecher unter Ben Ali, bis er sich vor zwanzig Jahren aus der Politik zurückzog.

 

Seine erste Rückkehr feierte er als Übergangspremier im Revolutionsjahr 2011, bevor die Verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit aufnahm. Hier erwarb er sich eine positive Reputation, die sich von der als enttäuschend empfundenen Herrschaft Ennahdas abhebt. In diesem Wahlkampf setzten die säkularen (aber eigentlich eher: anti-islamistischen) Kräfte ganz auf die Strahlkraft Essebsis. Es bildete sich ein Personenkult heraus, in dem Essebsi von seinen Anhängern und selbst manchem Journalisten liebevoll mit dem Spitznamen »Bajbouj« betitelt wurde.

 

Auch alte Reflexe aus den Zeiten Ben Alis kamen wieder zum Vorschein. So fanden sich während des Wahlkampfs in den sozialen Medien, aber auch vor den Wahlbüros am Wahltag in rot gekleidete »Bajbouj«-Fans. Rot, wie die Farbe der Partei Nidaa Toues. Unter Ben Ali war die Farbe Lila mit der Einheitspartei RCD verbunden, und sie fand sich nicht nur auf Plakaten mit dem Konterfei des Präsidenten.

 

Auch goldumrahmte Bilder des Präsidenten sollen gelegentlich wieder in den Läden hängen, und große Firmen schalten ganzseitige Anzeigen in Zeitungen, um Essebsi zur Wahl zu beglückwünschen. Ganz wie in alten Zeiten. Doch selbst für diejenigen Wähler, die mit dem Personenkult nicht viel anfangen konnten, schien der großväterliche und staatsmännisch auftretende Béji Caïd Essebsi das kleinere Übel zu sein.

 

Seine Wahl sollte den als Verräter seiner Ideale verschimpften Moncef Marzouki endgültig aus dem Palast in Carthage fegen und Ennahda schwächen. Allein sein fortgeschrittenes Alter, Essebsi ist 88 Jahre alt, erscheint ihnen zu garantieren, dass seine Regentschaft höchstens eine Legislaturperiode andauern wird.

 

Unsichere Aussichten für Wahrheitskommission und kritische Journalisten

 

Dabei bleibt offen, ob sich die neue Regierung wirklich dem demokratischen Prozess verpflichtet fühlt. Zum einen ist Essebsi der Vorsitzende eines breiten Bündnis, das sowohl Linke, Gewerkschafter, aber auch viele politische Persönlichkeiten aus der vorrevolutionären Zeit vereint. Sie eint allein ihre Abneigung Ennahda gegenüber, und die Koalition mit der alten politischen Elite ist unter Linken und Gewerkschaftern umstritten.

 

Aus Furcht, dass die Granden des alten Regimes Überhand nehmen könnten, wurde kein Parteikongress abgehalten. Das heißt aber auch, dass die Partei keinerlei innere demokratischen Prozesse pflegt – im Gegensatz zu Ennahda – und sich bei aufkommenden Richtungskämpfen spalten könnte. Dann wäre natürlich die herbeigeschworene politische Stabilität dahin. Doch es rumort auch an ganz anderen Stellen des demokratischen Übergangs: So kam es kurz nach der Wahl zum Eklat, als die Menschenrechtsaktivistin Sihem Ben Sedrine als Leiterin der tunesischen Wahrheitskommission Dokumente aus dem Präsidentschaftspalast abholen wollte.

 

Scheinbar fürchtete sie, dass der neue Präsident ein Interesse daran haben könnte, kompromittierende Dokumente zu vernichten. Schließlich hatte Essebsi verlauten lassen, dass die Wahrheitskommission allein dazu diene, alte Rechnungen zu begleichen. Auch die Meinungsfreiheit erlebt wieder Rückschläge. So wurden zum Jahresende die Regisseurin Ines Ben Othman sowie der Blogger Yassine Ayari verhaftet.

 

Die Regisseurin war am 19. Dezember auf dem Weg zur örtlichen Polizeidienststelle, um gegen eine Polizistin Anzeige zu erstatten, die sie auf Facebook mehrfach bedrängt und beleidigt hatte. Stattdessen wurde Ben Othman selbst wegen eines Übergriffes auf einen Angestellten des öffentlichen Dienstes verhaftet und zu zwei Monaten Haft verurteilt. Yassine Ayari wurde wegen Verleumdung von mehreren hochgestellten Offizieren und Angestellten des Verteidigungsministeriums von einem Militärtribunal zu drei Jahren Haft verurteilt.

 

Ayari, ein streitbarer Blogger, der schon unter Ben Ali aktiv war, hatte in den letzten Monaten Nidaa Tounes und Essebsi lautstark kritisiert. Zwar untersteht die Militärjustiz nominell nicht dem Präsidenten, und doch könnte die Causa Ayari zu einem Präzedenzfall werden, der der Bevölkerung anzeigt, ob man im neuen Tunesien Kritik an Institutionen wie dem Militär äußern darf oder nicht.

Von: 
Johanne Kübler

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