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Vor den Parlamentswahlen in Tunesien

Abstimmung ohne Euphorie

Feature

Trotz der demokratischen Fortschritte will sich vor den Parlamentswahlen keine Begeisterung in Tunesien einstellen. Knapp vier Jahre nach der Revolution hinken die Erwartungen an den sozialen Wandel den ökonomischen Realitäten hinterher.

Es ist Wahlkampfzeit in Tunesien. Am Sonntag, dem 26. Oktober, vier Jahre nach der Revolution und drei Jahre nach den ersten freien Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung, sind die Tunesier dazu aufgerufen, ein erstes reguläres Parlament zu wählen. Einen Monat später, am 23. November, finden die Präsidentschaftswahlen statt. Derweil wird der Wahlkampf von der Personalisierung der Politik und der Polarisierung zwischen Ennahda und ihrem Widersacher Nidaa Tounes dominiert.

 

Statt wie seit der Unabhängigkeit alle Macht in die Hände des Präsidenten zu legen, verordnete die verfassungsgebende Versammlung Tunesien ein semipräsidentielles Regierungssystem, in dem sich Präsident, Ministerpräsident und Parlament die Macht teilen. Der Präsident ist als Oberbefehlshaber für die Sicherheit und die Außenpolitik des Landes verantwortlich, in Konsultation mit dem Ministerpräsidenten. Doch im Gegensatz zu früher kann der Präsident das Parlament und die Regierung nicht ohne die Zustimmung von anderen Organen auflösen.

 

Der Ministerpräsident benennt zudem die Regierung und bestimmt die Ausrichtung ihrer Politik. Man sollte meinen, dass der Systemwechsel den Parlamentswahlen Aufwind gibt. Doch der Enthusiasmus der Wähler hält sich in Grenzen. Zwar sind die Wahlen in den Medien und auf den Straßen des Landes omnipräsent – in jedem Viertel findet sich eine Mauer eines öffentlichen Gebäudes, auf die in Reih und Glied Wahlplakate aufgeklebt sind.

 

Auch die Presse berichtet täglich über politische Debatten und im Fernsehen laufen Wahlwerbespots. Doch viele Beobachter sorgen sich über die Wahlbeteiligung. Anders als bei den ersten demokratischen Wahlen im Herbst 2011 mussten sich die Wähler vorab registrieren lassen. Von 7,7 Millionen Wahlberechtigten haben dies nur 5,2 Millionen getan. Auch wenn dies noch immer eine respektable Zahl ist, so macht sie doch auch deutlich: Drei Jahre nach der Revolution ist die Begeisterung, die bei der Wahl im Oktober 2011 zu spüren war, verflogen.

 

Der Mangel an Enthusiasmus hängt vor allem mit der durchgehend schlechten wirtschaftlichen Lage zusammen. Viele Menschen wenden sich von der Politik ab, weil sie die Ziele der Revolution, vor allem die Forderung nach einem Leben in Würde, nicht verwirklicht sehen. Darüber hinaus haben aber auch die Politiker selbst ihren Anteil am gesunkenen Interesse der Bevölkerung. Zum einen haben sie es versäumt, den Wählern zu erklären, dass die neue Verfassung das Machtgefüge im Land zugunsten des Parlaments verschoben hat.

 

Da der Präsident seit Bestehen der Republik die Macht innehatte, liegt die Aufmerksamkeit auf den Präsidentschaftswahlen, was einen hochgradig personalisierten Wahlkampf mit sich bringt. Die Tunesier sind mental noch Gefangene des langjährigen Personenkults, das gilt nicht nur für die Wähler, sondern auch für die Politiker selbst. Eine Unterordnung des Einzelnen für die Parteiraison fällt vielen schwer. Im Vorfeld der Wahlen haben die meisten großen Parteien – mit Ausnahme von Ennahda – interne Krisen und das Zerbröckeln ihrer Basis verkraften müssen.

 

Die Krisen haben sich im Zuge der Konstituierung der Wahllisten intensiviert – manch alteingesessenes Parteimitglied, das bei den besten Listenplätzen den Kürzeren gezogen hatte, ist ausgetreten und tritt nun auf der Liste einer anderen Partei oder auf einer unabhängigen Liste an. Ein Nebeneffekt davon ist eine große Anzahl von Kleinstparteien. Das nährt Befürchtungen über eine Fragmentierung des Parlaments, da die tunesische Variante des Verhältniswahlrechts kleine Parteien begünstigt.

 

Auch trauen sich viele ehemalige Vertreter des alten Regimes zurück auf die politische Bühne. Fünf ehemalige Minister unter Präsident Ben Ali (davon gehörten drei seiner Partei RCD an) bewerben sich um die Präsidentschaft. Sie profitieren von einem Nimbus der politischen Erfahrung, im Gegensatz zu den ehemaligen Regimegegnern, deren politische Unerfahrenheit und mangelnder Einfluss auf den bürokratischen Apparat von vielen als Grund für die andauernden politischen und wirtschaftlichen Probleme gesehen werden.

 

Die Zeiten der markigen Worte sind für Ennahda vorbei

 

Nur drei Jahre nach der Revolution können viele Tunesier mit dem formalisierten und mediatisierten politischen Spiel nicht viel anfangen, weil es Welten von ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen entfernt ist. Konkrete Vorschläge, wie die Wirtschaft angekurbelt werden könnte, gibt es wenige, stattdessen läuft es auf einen Showdown zwischen Ennahda und Nidaa Tounes hinaus. Die Angst vor einer Islamisierung des Landes durch den Sieger der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung hat die Politik Tunesiens in den letzten Jahren dominiert.

 

Politische Krisen entstanden auch dadurch, dass Ennahda auf ihrer Legitimität als Wahlsieger beharrte, obwohl tausende Bürger auf die Straßen strömten, um gegen Änderungen des Status der Frau in der Verfassung zu demonstrieren. Doch die Zeiten der markigen Worte sind für Ennahda vorbei. Sie präsentiert sich heute als Partei von Konsens und Versöhnung, die keinen Anspruch auf die Präsidentschaft erhebt – Ennahda hat keinen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt.

 

Zwar wird auf Wahlkampfveranstaltungen gemeinsam gebetet, aber auch die Nationalhymne gesungen. Dahingegen setzt Nidaa Tounes um den 87-jährigen früheren Ministerpräsidenten Béji Caïd Essebsi auf direkte Konfrontation. Die Partei um einen harten Kern aus Garden des alten Regimes und vormals regimetreuen Geschäftsleuten hat sich zum größten Verteidiger des Säkularismus ausgerufen, mit dem Ziel, Ennahda zu schlagen. Dabei kämpft sie mit harten Bandagen.

 

Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Hammam-Lif ließ sich Essebsi dazu hinreißen zu sagen, dass jede Stimme gegen Nidaa Tounes eine Stimme für Ennahda, und damit für eine Islamisierung Tunesiens sei. Die anderen Parteien, insbesondere die linke Volksfront, reagierten empört. Denn in Wirtschaftsfragen etwa unterscheiden sich die Kontrahenten und stehen beide für eine liberale Wirtschaftspolitik. Stattdessen steht allein die Rolle der Religion im Vordergrund.

 

In privaten Gesprächen und in sozialen Netzwerken raten selbst radikale Aktivisten wie die Femen-Aktivistin Amina Sboui zur »vote utile«, also der strategischen Wahl. Derweil heizen tödliche Zusammenstöße zwischen der Polizei und angeblich islamistischen Terroristen die Atmosphäre zusätzlich an. Konfrontationen, wie jene am 23. Oktober in Oued Ellil nahe Tunis, die sechs Tote forderte, erinnern die Öffentlichkeit allzu sehr an den Aufstieg bewaffneter Gruppen und die politischen Morde, die das Land erschütterten. Denn bei aller Enttäuschung über die Unfähigkeit der Politik, die Forderungen der Revolution einzulösen, würde ein Scheitern der Wahlen durch ein Klima der Angst als ein Scheitern der Revolution empfunden.

Von: 
Johanne Kübler

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