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Ultras, Fußball und Protest in der Türkei

Tweets und T-Shirts für Istanbul

Feature

Drei Istanbuler Fangruppen reagieren mit einem Schulterschluss auf die Polizeigewalt am Taksim, Fußball- und Basketballprofis senden Solidaritätsbekundungen. Ein Ringer sorgt mit verbalen Ausfällen gegen die Demonstranten für Aufregung.

Erst im Mai dieses Jahres wurde nach einem Spiel der Istanbuler Erstligisten Fenerbahçe und Galatasaray ein junger Fenerbahçe-Fan an einer Bushaltestelle von zwei Galatasaray-Fans erstochen. Das Motiv: Purer Hass auf den sportlichen Gegner. Die Trennlinien im türkischen Fußball verlaufen klar entlang der Vereinsgrenzen. Wenn in Izmir die zwei Zweitligisten Karşıyaka and Göztepe gegeneinander antreten, gehören die gewaltsamen Ausschreitungen nach dem Spiel zum allwöchentlichen Ritual, unbeteiligte Anwohner bleiben dann lieber zu Hause. Doch trotz der gelegentlichen Gewaltausbrüche verläuft der Graben zwischen den Fangruppen meist in relativ berechenbaren Bahnen. Diese eingespielte Rivalität hat seit knapp einem Monat in der Türkei eine Auszeit genommen.

 

Vier Zivilisten und ein Polizist sind im Rahmen der Proteste gegen die AKP-Regierung gestorben, knapp 10.000 Menschen wurden, zum Teil schwer, verletzt, mehrere tausend Menschen wurden festgenommen. Die Fronten haben sich verhärtet und reduzieren sich auf Unterstützer der Demonstranten versus AKP-Anhänger. Von diesen Dynamiken wird auch die Sportwelt erfasst.  In diesem Zusammenhang ist im vergangenen Monat die Ultra-Gruppierung Çarşı des Istanbuler Fußballvereins Beşiktaş zum Helden der Demonstranten aufgestiegen. Während der Proteste »kidnappten« die Çarşı-Mitgliedervor dem Dolmabahçe-Palast einen Bulldozer und schützten die Demonstranten damit über mehrere Stunden vor den Wasserwerfern der Polizei. Kurz darauf stahlen sie einem Polizisten ein Funkgerät und führten die ahnungslosen Sondereinsatzkräfte vor, indem sie sie dazu brachten, den Stadiogesang »Wir sagen schwarz – ihr sagt weiß« (schwarz und weiß sind die Farben des Vereins, Anm. d. R.) auszurufen.

 

Der Schriftzug der Beşiktaş-Ultras auf den Fan-Shirts von Galatasaray und Fenerbahçe

 

Der Wahlspruch der Beşiktaş-Ultras lautet: »Çarşı, herşeye karsi – Çarşı gegen alles«. Tatsächlich ist die Bandbreite der gesellschaftspolitischen Unterstützungsbekundungen bei kaum einer Ultra-Gruppierung so divers wie bei Çarşı. Nicht selten hissen die Anhänger vor dem Spiel die türkische Flagge und salutieren, um gefallenen Soldaten zu gedenken. Nach der Ermordung des armenischstämmigen Intellektuellen Hrant Dink im Januar 2007 entrollten sie wiederum Plakate mit der Aufschrift »Wir sind alle Hrant Dink«. Diese Art der Meinungsfindung jenseits politischer Loyalitäten hat im Rahmen der Proteste weite Teile der Bevölkerung erfasst und zu dem historisch einmaligen Zusammenschluss der Fangruppen von Galatasaray, Fenerbahçe und Beşiktaş als »Istanbul United« geführt.

 

Inzwischen gibt es ein eigenes Emblem, das den Schulterschluss symbolisieren soll, T-Shirts der beiden anderen Istanbuler Fangruppen werden mit dem Schriftzug der Beşiktaş-Ultras Çarşı beflockt. Aber nicht nur die Fanclubs, auch einzelne Spieler beziehen über Facebook und Twitter Stellung zu den Protesten. Mit den Hashtags #occupygezi und #direngeziparki versehen twitterte der Niederländer Wesley Sneijder von Galatasaray: »Mein Herz ist beim türkischen Volk, das seine Rechte verteidigt.« Manuel Fernandes vom Rivalen Beşiktaş schrieb: »#occupygezi #direngeziparki, mein Herz ist bei euch. #direnbesiktas ihr seid nicht allein.« Nicht nur die Fußballer ergreifen Partei, sondern auch Basketballspieler. Der Slowene Boštjan Nachbar, früher beim Istanbuler Verein Efes Pilsen unter Vertrag, schrieb: »Mache mir Sorgen um meine Freunde in der Türkei. Bleib stark, Istanbul.« Sein ehemaliger Verein hatte schon vor den aktuellen Protesten Probleme mit der Regierung Erdogan. Die restriktiveren Gesetze zum Alkoholkonsum unter der AKP verbieten auch die Bewerbung von Alkoholmarken: Efes Pilsen musste sich im vergangenen Jahr in »Anadolu Efes« umbenennen.

 

NBA-Meister Okur gibt Europaminister Bağış einen Korb

 

Auch aus dem Ausland erreichten die Demonstranten Solidaritätsbekundungen der Basketball-Gemeinde. Mehmet Okur, 2004 als erster Türke NBA-Meister mit den Detroit Pistons, demonstrierte von Anfang an seine Unterstützung. Er besuchte nicht nur eine Anti-Regierungsdemonstration in Los Angeles, sondern schlug über Twitter die Einladung des türkischen Europaministers Egemen Bağış zur Eröffnungsgala des »Sports Business Summit« der International Herald Tribune mit den Worten aus: »Danke für die Einladung, aber der einzige Ort, an dem ich im Moment seien möchte, ist im Gezi-Park auf dem Taksim.« Deron Williams, der während des NBA-Lockouts 2011 bei Beşiktaş Milangaz unter Vertrag stand und nun wieder bei den Brooklyn Nets in der NBA spielt, twitterte: »#siddetidurdurun  – Stoppt die Gewalt,  #Abdullah Gul göreve  – Abdullah Gül, tu deine Arbeit«, zusammen mit einem Foto der Istanbuler Demonstranten.

 

Einige Sportler waren auch selbst vor Ort. Der Lette Kaspars Kambala vom Ankararer Verein Türk Telekom berichtete etwa: »Ich habe heute meine türkischen Brüder auf dem Taksim unterstützt. Viele von ihnen wurden zusammengeschlagen und verletzt.« Aber es gibt auch Sportler, die eindeutig Stellung gegen die Demonstranten beziehen, wie etwa der Ringer Rıza Kayaalp: »Ihr habt den Taksim-Platz den Armeniern überlassen, Gott wird euch bestrafen, ihr Plünderer.« Kurz darauf pöbelte er: »Die Armenier sind auf dem Taksim-Platz und feiern ihre Freiheit in der Türkei.« Und mit seinem dritten Tweet setzte der Welt- und Europameister noch eins drauf: »Ich ficke eure Demo, ihr Verräter.« Zwar brach von Seiten der Medien und Öffentlichkeit eine Welle der Empörung über Kayaalp herein, die Regierung jedoch hielt an ihm fest: Kayaalp durfte während der Eröffnungsfeier der »Olympischen Mittelmeerspiele« am 20. Juni in Mersin die türkische Flagge tragen.

Von: 
Onur Keskin

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