Die lebenslange Haftstrafe gegen den uigurischen Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti setzt ein falsches Signal. China täte gut daran, kritische Köpfe einzubinden statt sie einzusperren, meint der Menschenrechtsbeauftragte Christoph Strässer.
Für viele war der 15. Januar 2014 womöglich einer dieser sonnigen Tage, die es in Peking in dieser Jahreszeit häufig gibt. Für die vier- und siebenjährigen Söhne von Ilham Tohti war es ein pechschwarzer Tag. Es war der Tag, an dem ihr Vater verhaftet wurde. Acht Monate später verurteilte ihn ein Gericht im westchinesischen Urumqi zu lebenslanger Haft und konfiszierte sein Privatvermögen. Sein Vergehen: Er setzte sich konsequent für die Verständigung zwischen Uiguren und Han-Chinesen ein.
Er war davon überzeugt, dass dies möglich ist, wenn die Ursachen für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Benachteiligung der uigurischen Minderheit bekämpft würden. Ilham Tohti war bis zu seiner Verhaftung Professor für Wirtschaft an der renommierten Minzu-Universität in Peking. Als konsequenter Fürsprecher für die Belange der Uiguren war er stets ein wichtiger und sehr geschätzter Gesprächspartner für uns. Er redete nie um den heißen Brei herum. Er nannte die Probleme beim Namen.
Wenn Ilham Tohti zu erzählen begann, etwa über die gezielte Ansiedlung von Han-Chinesen in der Provinz Xinjiang, die die Uiguren in ihrem eigenen Land zur Minderheit werden ließ, dann war er kaum zu bremsen. Er redete ohne Punkt und Komma. Man hatte kaum Chancen, eine Frage zu stellen. Er prangerte die mangelnde wirtschaftliche Teilhabe der Uiguren am Ressourcenreichtum von Xinjiang an oder warnte vor dem Verlust der uigurischen Kultur durch die politisch gesteuerte Sinisierung Westchinas.
Mit seiner deutlichen Kritik an der Politik war Ilham Tohti vielen in Peking ein Dorn im Auge. Er stand immer unter Druck. Er wurde immer wieder von Sicherheitskräften vernommen, seine Webseite wurde gesperrt, seine Familie belästigt. Dies nahm er hin. Als schließlich Anklage gegen ihn erhoben wurde, fürchteten viele Beobachter, es werde keinen fairen Prozess geben. Leider bestätigte sich diese Erwartung. Seine Anwälte wurden massiv in Ihrer Arbeit behindert. Eine musste ihr Mandat niederlegen, um eine Schließung ihrer Kanzlei zu verhindern.
Zeitgleich mit Ilham Tohti wurden einige seiner Studenten verhaftet. Einige von ihnen traten im Prozess gegen ihren Professor auf. Ihr Schicksal bleibt ungewiss. Westliche Prozessbeobachter, darunter eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft, wurden vor Gericht nicht zugelassen. Ein rechtsstaatliches Verfahren sieht anders aus.
Dabei war Tohti nicht nur ein Kritiker, sondern eine wichtige Stimme des Ausgleichs, ein echter Brückenbauer. So deutlich er in seiner Kritik an der Pekinger Politik war, so unmissverständlich lehnte er die gewaltsame Durchsetzung der uigurischen Interessen und Forderungen radikaler Kräfte ab. Er positionierte sich öffentlich gegen ein unabhängiges Ost-Turkestan, wie es beispielsweise Rabiya Kadeer forderte, die im Exil lebende Führerin der uigurischen Unabhängigkeitsbewegung.
Mit seiner Kritik an ihr machte er sich nicht nur Freunde in seinem Volk. Doch davon ließ er sich nicht von seinem Kurs abbringen. Ihm ging es darum, die Lebenswirklichkeit der Uiguren konkret zu verbessern. Ilham Tohti wegen Separatismus zu verurteilen, war nicht nur absurd. Ich bin überzeugt, dass dies ein schwerer Fehler war. Die unbedingte Beibehaltung des Status quo produziert noch keine Stabilität, das lehren uns aktuell leider die immer wieder aufflammenden gewaltsamen Auseinandersetzungen in Xinjiang.
Dieser Schritt wird die Gräben zwischen Xinjiang und Peking vertiefen. Er droht das weiter zu verschärfen, was der chinesische Schriftsteller Wang Lixiong in seinem Werk »Mein Xinjiang, Dein Ostturkestan« mit Sorge als »Palästinisierung« von Xinjiang beschrieben hat. Dem zunehmenden, teils gewaltsamen Protest der Uiguren begegnete die Regierung in den vergangenen Jahren mit immer mehr Polizei und Militär. Diese Strategie wird auf Dauer nicht erfolgreich sein.
Nur moderate Kräfte wie Ilham Tohti werden eine Spirale der Gewalt verhindern oder durchbrechen können. Ich wurde vor kurzem gefragt, ob Ilham Tohti eine Chance hätte, vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden. Ich würde es ihm und China sehr wünschen.
Christoph Strässer,
ist seit 2002 Mitglied des Bundestages und war von 2005 bis 2014 Sprecher der Arbeitsgruppe »Menschenrechte und humanitäre Hilfe« der SPD-Fraktion. Seit dem 29. Januar 2014 ist Strässer Menschenrechtsbeauftrager der Bundesregierung.