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Tunesiens Gewerkschaftsverbandund

Moscheen gegen Gewerkschaften

Analyse

Die Machtprobe ist nach der Absage des Generalstreiks vorläufig vertagt. Doch die Konfrontation zwischen Tunesiens Gewerkschaftsverbandund der islamistischen Ennahda hält. an.

Am Donnerstag, den 13. Dezember, sollte in Tunesien alles stillstehen. Die »Union Générale Tunisienne du Travail« (UGTT), die wichtigste tunesische Gewerkschaft, rief für diesen Tag einen Generalstreik aus. Erst in letzter Minute lenkte die Regierung ein. In einem Treffen zwischen einer Delegation der UGTT und Vertretern der Regierung (am 11. Dezember) wurde vereinbart, dass die Regierung das Recht der Gewerkschaft respektiert, sich politisch, sozial und gewerkschaftlich zu engagieren.

 

Außerdem verurteilt die Regierung Gewaltakte jeglicher Art. Beide Parteien bekräftigen ihren Willen, die Situation zu beruhigen und zukünftige Probleme über den Dialog zu lösen. Die Regierung verurteilte zudem Angriff auf die UGTT am 4. Dezember. Es wurde außerdem die Gründung einer gemeinsamen Kommission beschlossen, deren Zusammensetzung von beiden Parteien bestätigt wird.

 

Die Androhung eines Generalstreiks, die ultimative Machtdemonstration der UGTT, ist eine Reaktion auf eine Gewalteskalation am Rande der Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Ermordung von Arbeiterführer Ferhat Hached durch die Franzosen am 4. Dezember. Zum Gedenken an diese große Figur der tunesischen National- und Gewerkschaftsbewegung sollte ein Marsch vom Sitz der Gewerkschaft zum Mausoleum stattfinden.

 

Soweit kam es aber nicht, denn eine Gegendemonstration von rund 500 Anhängern der islamischen Partei Ennahda vor dem Hauptquartier der Gewerkschaft führte zu Spannungen, die in einer Schlägerei mündeten, bei der 20 Menschen verletzt wurden. Über den genauen Auslöser der Geschehnisse wird gestritten, beide Seiten schieben sich gegenseitig die Schuld an den gewalttätigen Auseinandersetzungen zu.

 

Während Gewerkschaftsführer »Ennahdas kriminelle Milizen« für den Angriff verantwortlich machen, erklärt der Chef der islamischen Partei, Rachid Ghannouchi, von der UGTT trainierte Milizen hätten Bürger angegriffen. In der Tat berichten Augenzeugen wie der französische Journalist Thierry Brésillon, dass der gewerkschaftseigene Ordnungsdienst auf Gegendemonstranten, die vor der Gewerkschaftszentrale gegen die politische Ausrichtung der UGTT protestierten, losgegangen waren.

 

Daraufhin hatten mehrere Salafisten mit Messern und Stöcken UGTT Funktionäre angegriffen, bevor sie das Gebäude attackierten, in dem mehrere Gewerkschafter Zuflucht gefunden hatten. Die Gegendemonstration erscheint als eine Antwort auf die Geschehnisse in der Kleinstadt Siliana, rund 120 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tunis.

 

Die Bewohner der Stadt, die wie viele andere im Inneren Tunesiens mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, hatten fünf Tage lang mit den Ordnungskräften gerungen. Diese schlugen die zunächst friedlichen Proteste gegen den als korrupt geltenden, von der Zentralregierung im Februar ernannten, Gouverneur gewalttätig nieder. Durch Tränengas, Gummikugeln und Schrotflinten wurden mehr als 300 Personen teilweise schwer verletzt. Ausgelöst wurden die Demonstrationen durch einen Aufruf der örtlichen Vertreter der UGTT, zu einem lokalen Generalstreik.

 

Zusammenstoß an historischer Stätte

 

Zwar führten Verhandlungen zwischen der UGTT und der regionalen Regierung zu einer Eindämmung der Situation, aber der Konflikt zwischen der UGTT und der Ennahda schwelt. In offiziellen Reaktionen teilt Ennahda verbal gegen die traditionsreiche Gewerkschaft aus. Die Partei beschuldigt die UGTT, die sozialen Spannungen in den armen Regionen im Landesinneren anzuheizen.

 

In seiner Reaktion auf die Geschehnisse am 4. Dezember mahnte Rachid Ghannouchi, die UGTT solle »eine Gewerkschaft und keine Partei der radikalen Opposition« sein. Diese Forderungen findet sich in den Slogans wieder, die die Gegendemonstranten vor der Gewerkschaftszentrale skandierten: »Das Volk will die UGTT reinigen« und das allgegenwärtige »Dégage – Haut ab!«

 

Oberflächlich gesehen war die Gegendemonstration ein Versuch der Islamisten, diese große Figur der tunesischen National- und Gewerkschaftsbewegung für sich zu vereinnahmen, auf historischem Boden, dem Mohamed-Ali-Platz vor dem Sitz der UGTT, die während der Dekolonisation eine führende Rolle gespielt hatte. Einige Demonstranten trugen Bilder des historischen Gewerkschaftsführers mit sich und antworten auf die Frage des Journalisten Thierry Brésillon, warum sie hier seien, »um der Ermordung Ferhat Hacheds zu gedenken«.

 

Auf nähere Nachfrage ergibt sich aber ein anderes Bild. Ein Gegendemonstrant, der seit 30 Jahren Mitglied Ennahdas ist, erläutert: »Armut gibt es überall, nicht nur in Siliana, aber die UGTT hat die Situation gegen die Regierung ausgenutzt. Die UGTT hat in 23 Jahren nie etwas gegen Ben Ali unternommen, kein Streik, gar nichts. In einigen Städten wie Redeyef oder Sidi Bouzid gab es Gewerkschafter, die gegen das Regime gekämpft haben. Aber jetzt wollen sie die Revolution zerstören, wollen sie die Regierung stürzen. Wir fordern, dass die UGTT eine politisch neutrale Gewerkschaft ist, und sich nicht wie eine politische Partei verhält.«

 

Präsident Marzouki fordert Bildung einer technokratischen, überparteilichen Regierung

 

In der Tat hatte sich die UGTT in der Vergangenheit vom alten Regime kooptieren lassen. Die Vorgänger des jetzigen Generalsekretärs Houcine Abbassi hatten sich zu Ben Ali bekannt. Somit ist es nicht ganz abwegig, dass die Anhänger der ersten gewählten Regierung die Gewerkschaft mit  dem alten Regime assoziieren. Die aktuellen Vorgänge sind aber nur zu verstehen, wenn man sich die politische Situation in Tunesien vergegenwärtigt.

 

Ennahda liefert sich zurzeit einen Machtkampf an mehreren Fronten: auf der rechten Seite mit der neuen, alten Partei »Nidaa Tounes«, die offiziell das Erbe der historischen Destour-Partei antritt, de facto aber die Anhänger des alten Regimes versammelt. Auf der linken Seite des politischen Spektrums hingegen herrscht vor allem Ratlosigkeit. In viele kleine Parteien zersplittert, fällt es der Linken schwer, sich gegen den Machthunger der Islamisten zu behaupten und den eigenen Machtanspruch geltend zu machen.

 

Stattdessen forderte der einstige Vorkämpfer der Linken, Präsident Moncef Marzouki, nach den Unruhen in Siliana die Bildung einer technokratischen, überparteilichen Regierung. In diesem Sinne stellt die UGTT tatsächlich die einzige ernstzunehmende linke Opposition in Tunesien dar. Nun, nach dem Zwischenfällen am 4. Dezember, tobt ein offener, ideologischer Konflikt in einem Land, in dem der Wettstreit unterschiedlicher Weltanschauungen durch jahrzehntelange Diktaturen zum Erliegen kam.

 

Beide Seiten mobilisieren ihre Kräfte. Der bekannte Prediger Béchir Belhassen erließ eine Fatwa, in der der Generalstreik als »Sünde« gebrandmarkt wird. Nach ersten Streiks in Städten wie Sfax, in dem die UGTT 40.000-60.000 Demonstranten gezählt haben will, schafften es die konservativen Moscheenvorsteher der Stadt, eine Gegendemonstrationen von 10.000-12.000 Ennahda-Anhängern auf die Beine zu stellen. Ob der vorläufige Waffenstillstand zwischen der UGTT und der Regierung hält steht in den Sternen. Eines scheint sicher – Tunesien droht ein heißer Winter.

Von: 
Johanne Kübler

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