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Tripolis und der Vulkan

Tripolis und der Vulkan

Feature

Während in Benghazi weder Armee noch Milizen an Boden gewinnen, hat die »Fajr«-Allianz unter Führung von Misrata den Kampf um Tripolis für sich entschieden – vorerst, denn schon bald steht eine Großoffensive auf die Hauptstadt an.

Während Aktivisten und Liberale nach der Ruhe den Sturm eines Bürgerkriegs befürchten, beschwört die Wirtschaftsgemeinde einen bald wiederkehrenden Bauboom. Überall in Tripolis gibt es Signale für beide Optionen. Die kürzer werdenden Schlangen an den Zapfsäulen und Supermärkten in Tripolis lassen hoffen. 1.000 vietnamesische Arbeiter überquerten Anfang September die tunesische Grenze. Das vietnamesische Arbeitsministerium will auch noch die letzten in Misrata verbliebenen Arbeiter außer Landes bringen.

 

Die Tore der Schulen und Universitäten bleiben trotz des massiven Drucks der Besatzer aus Misrata geschlossen. Die Cafés sind wieder voll, doch wie vor der Revolution traut sich niemand offen über Politik zu reden. In mattschwarzen Jeeps jagen blutjunge Milizionäre durch die Straßen, vor Ministerien und auf strategischen Kreuzungen zeigen sie stolz ihre Waffen. Geschäftsleute halten Läden und Büros geschlossen, Banken geben aus Angst vor den immer dreisteren kriminellen Banden keine großen Summen Bargeld mehr aus. »Es ist wie auf einem Vulkan.

 

Während die Lava der letzten Eruption abkühlt, weiß niemand, wann der nächste Ausbruch kommt«, sagt Bahaa Guru. Der 27-jährige Ölingenieur wartet wie viele gut ausgebildete Männer mit seiner Familie in Tunesien auf ruhigere Zeiten. Das bürgerliche Tripolis trifft man zur Zeit auf Djerba, in Sousse oder in Tunis, wo es nur noch  wenige freie Apartments oder Hotelzimmer gibt. Zehntausende Libyer waren nach Beginn der Kämpfe zwischen Zintan und Misrata in die Nachbarländer geströmt, mit ihnen kehrten auch fast alle Gastarbeiter Libyen den Rücken. Mangels Fachpersonals stehen viele Bäckereien, Betriebe und Baustellen still.

 

In Tripolis geblieben sind die Milizen und die Perspektivlosen. Für viele aus ärmeren Stadtteilen wie Suk Al-Juma, Tajoura oder Abu Salim bieten revolutionären Einheiten, die Katibas, eine einmalige Chance auf Ansehen und ein üppiges Einkommen. Von den rund 300.000 offiziell registrierten Revolutionären hatten vor drei Jahren nur wenige gekämpft, doch im Namen der »Revolution« lässt sich nun scheinbar alles rechtfertigen.

 

Der Vulkan könnte tatsächlich bald wieder ausbrechen, in Form einer Offensive der vor drei Wochen aus der Hauptstadt vertriebenen Zintanis und ihrer Kampfgenossen aus Warshefana. »Burkan – Vulkan« nennen sie ihren angekündigten Sturm auf die Hauptstadt. »Wir kommen zurück, um Tripolis nicht den Al-Qaida-Leuten zu überlassen«, so der Kommandant der 120 südlich von Tripolis gelegenen Wüstenstadt. Er ist davon überzeugt, dass sich seine ehemaligen Kampfgenossen aus Misrata auf einen Bund mit dem Teufel eingelassen haben.

 

»Die Misratis werden das nächste Opfer der in die Hauptstadt einsickernden Dschihadisten sein,« glaubt er. Aus Angst vor den Extremisten will auch Khalifa Hafter den Krieg zurück nach Tripolis bringen. Unter dem Namen »Karama – Würde« lässt der pensionierte Armeegeneral bereits seit Monaten mit libyschen Kampfjets die Islamisten von Ansar Al-Scharia in Benghazis Vororten bombardieren. »Karama« hat zwar nicht die Islamisten vertrieben, aber dafür tausende Familien aus drei  Stadtteilen von Libyens offizieller Wirtschaftshauptstadt.

 

Das Nebeneinander von Alltag und Krieg gehört zu den Absurditäten der libyschen Nachkriegszeit

 

Das Nebeneinander von Alltag und Krieg gehört zu den Absurditäten der libyschen Nachkriegszeit, über die in westlichen Medien wenig berichtet wird. Die Stadtstrände und Einkaufszentren Benghazis sind oft nur wenige Kilometer vom Kampfgeschehen entfernt und trotzdem brechend voll. Die Bürger akzeptieren, dass sie gegen die Bewaffneten machtlos sind und trotzen dem Krieg mit demonstrativer Ignoranz. Viele würden die Milizen beider Seiten am liebsten in die Wüste schicken.

 

»Nie in meinem Leben habe ich je einen Schuss gehört, bis im Februar vor drei Jahren die Hölle losbrach«, klagt eine Frau aus Hawari störrisch, »Benghazi ist einmal gegen Gaddafi und drei Mal gegen die Milizen aufgestanden, wir werden diese Wilden irgendwann wieder aus der Stadt verjagen.« Doch je länger der Konflikt zwischen der Armee-Spezialeinheit Saiqa und den Islamisten dauert, desto unschärfer werden die Fronten.

 

Mittlerweile sind ganze Familien gespalten. »Ein Cousin geht morgens in der Uniform der Saiqa-Armee aus dem Haus, sein Bruder erhält bei Ansar Al-Scharia doppelt so hohen Sold, ihr gemeinsamer Bruder studiert und bleibt neutral«, berichtet der Zahnarzt Mohamed Kaplan von der Familie eines Onkels. Was von weitem wie ein Kampf der »Liberalen« gegen die »Islamisten« oder wie »Revolutionäre« gegen »Gaddafi-Anhänger« aussieht, hat manchmal eher mit der Höhe der Bezahlung, alten Stammesfehden oder kluger Propaganda zu tun.

 

Eine Mischung dieser Zutaten war auch der Kampf um die Macht in Tripolis. Aus einer alten Blutfehde zwischen den ehemaligen verbündeten Städten Zintan und Misrata machten die Angreifer aus Misrata einen Kampf gegen »Gaddafi-Anhänger« aus Zintan. Die zahlreichen Konfliktebenen erschweren die Vermittlungsversuche für die Diplomaten der Europäischen Union und der Vereinten Nationen.                                                 

 

Der Kampf um die Macht wird nicht auf Konferenzen bei der UN oder EU entschieden, sondern rund um die Freitagsgebete, die schon zu Gaddafis Zeiten die öffentliche Meinung bestimmten. In den meisten Moscheen gab der tolerante nordafrikanische Islam der Senussi-Bruderschaft bis vor kurzem noch den Ton an. Die von Katar, Saudi Arabien oder den Muslimbrüdern unterstützten religiösen Milizen sperrten in den letzten drei Jahren viele Sufi-Imame ein.

 

Überall im Land flogen Sufi-Schreine in die Luft. Nur noch zwei Moscheen in Tripolis werden von moderaten Gemeinden geführt, meist haben  konservative Wahhabiten das Kommando übernommen – zum Unbehagen vieler alt eingesessener Tripolitaner. Immer schon wurde in Tripolis der Geburtstag des Propheten Muhammad oder der Jahreswechsel gefeiert, nun versuchen bewaffnete Sittenwächter, dies zu verhindern, allerdings mit mäßigem Erfolg.

 

Die zunehmende soziale Spaltung ist nun auch politisch zementiert

 

Die zunehmende soziale Spaltung ist nun auch politisch zementiert. Zwei Parlamente und Regierungen beanspruchen die Macht. Gleich nach dem Ende der fünfwöchigen Schlacht um die Kontrolle von Tripolis hatte die siegreiche »Fajr«-Allianz Ende August das abgelaufene Mandat des Übergangsparlaments wiederbelebt. Der Vizepräsident des Nationalkongresses, Salah Makhzum, schwor am 6. September eine neue Regierung unter dem Islamisten Omar Al-Hassi ein. International anerkannt und offiziell im Amt ist jedoch das Mitte Juni landesweit gewählte Repräsentantenhaus und die Regierung vom Premierminister Abdullah Al-Thinni.

 

Die mehrheitlich moderaten Abgeordneten und Minister haben sich im ostlibyschen Tobruk vor dem Zugriff der Milizen in Sicherheit gebracht. Immer wieder waren dem 2012 gewählten Nationalkongress Beschlüsse mit Waffengewalt aufgezwungen worden. Das nahe der ägyptischen Grenze liegende Tobruk wird jedoch von Khalifa Hafter und der libyschen Armee kontrolliert, daher boykottieren die Abgeordneten aus Misrata und die Muslimbrüder die Sitzungen. »Ohne Kompromiss könnte Libyen in die drei historischen Regionen – Fezzan, Cyreneika und Tripolitanien – zerfallen«, fürchtet Abugassem Mashai.

 

Der Politologe glaubt, dass Versöhnung nur mit Einbindung der Stämme gelingen kann. »Die Stämme sind zuverlässige soziale Netzwerke mit klaren Regeln und in der rechtsfreien Lage vor und nach der Revolution die einzige soziale Absicherung des Einzelnen. Die Libyer als Individuen wollen Demokratie und eine transparente Marktwirtschaft, die Zivilgesellschaft muss Demokratie und Tradition zusammen bringen.« Während Mashai mit seiner NGO die Stammesältesten bei der Mediation zwischen den verfeindeten Milizen motiviert, schwindet deren Macht über die jungen Männer zusehends.

 

Mit Entsetzen reagierten viele Hauptstädter Anfang September auf ein Video, das auf Facebook die Runde machte. Darin ist eine junge Frau auf einem Pick-Up der Marke Toyota mit aufmontiertem Luftabwehr-MG zu sehen. Mitten auf einer belebten Straße in Tripolis versucht ein junger Milizionär, ihr das das riesige doppelläufige Geschütz zu erklären. Mit unsicherem Lächeln und verlegen versucht sie den Anweisungen zu folgen, bis  ohrenbetäubende 14,5-Millimeter-Geschosse in den Himmel der Hauptstadt krachen. »Ihre Familie wird stolz auf sie sein«, schreibt ein empörter Kommentator unter das Video. »Erst haben sie die Universitäten geschlossen, jetzt machen sie aus Tripolis Kandahar«, kommentiert ein anderer.

 

Wie lange noch bewahren die festen sozialen Strukturen Libyen vor dem völligen Chaos?

 

Die Stämme und Städte in der ölreichen Provinz Cyreneika im Osten haben sich nun zusammen getan und unterstützen Premier Thinni und die Abgeordneten des Repräsentantenhauses. Die Mehrheit der Lokalräte in Westlibyen hat sich auf die Seite der Fajr-Allianz um Misrata geschlagen. »Der Angriff Misratas auf den internationalen Flughafen von Tripolis war ein terroristischer Akt. Nur wir haben die Legitimität des Volkes, Libyen zu regieren«, so der verzweifelte Thinni im Staatssender Watanya, der nun ebenfalls aus Tobruk sendet.

 

Die ins benachbarte Tunesien geflohenen internationalen Diplomaten und Aktivisten warten  gespannt auf die nächsten Schritte des von Islamisten dominierten Rumpf-Kongresses in Tripolis, dessen Mandat im Frühjahr offiziell abgelaufen war. Die Nationalbank und die Nationale Ölgesellschaft werden zwar aus dem 1.300 Kilometer entfernten Tobruk geführt, haben aber ihren Sitz in Tripolis. Ob das Repräsentantenhaus wie ursprünglich festgelegt nach Benghazi umziehen und sich damit auf einen Kompromiss mit »Fajr« einigt, hänge von den militärischen Erfolgen General Hafters ab, so Parlamentssprecher Mohamed Shuhaib.

 

»Wir benötigen zudem Unterstützung bei dem Aufbau von Institutionen«. Der Sonderbeauftragte der britischen Regierung, Jonathan Powell, versuchte am 5. September, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Die Nato forderte auf ihrem Gipfel in Wales alle Seiten zu Mäßigung auf, setzt jedoch im Rahmen der »Mittelmeer-Initiative« auf ausschließlich auf Dialog der Gegner. Eine Kommission der Vereinten Nationen erarbeitet derweil eine Liste von Milizen-Kommandeuren, die aufgrund des Beschusses der Zivilbevölkerung mit Sanktionen belegt werden könnten.

 

»Im Falle eines Bürgerkrieges wird IS versuchen, auch in Libyen Fuß zu fassen«

 

»Es mag ja sein, dass EU und UN Abdullah Al-Thinni und das Repräsentantenhaus in Tobruk unterstützen. Thinni kontrolliert die Ölfelder und Zentralbank, jedoch nicht die Ministerien in der Hauptstadt und weite Teile des Westens, wo der Großteil der Libyer lebt«, klagt Aktivist Mazigh Buzakahr, aus den Nafusa-Bergen. Eine Rückkehr der Diplomaten und Ölfirmen nach Tripolis scheint ohne Verhandlungen mit den Misrata-Milizen und Islamisten unmöglich, würde jedoch die demokratisch gewählten Abgeordneten bloßstellen.

 

»Ohne internationale Hilfe könnte Libyen tatsächlich in einem Bürgerkrieg versinken«, so Buzakhar, der für diesen Fall eine Autonomie der Berbergebiete prophezeit. Hilfe kommt bereits, allerdings in Form von Waffen. Eine an die Öffentlichkeit gelangte Mail mit einer Liste von dringend nötigem Waffennachschub scheint Militärhilfe der ägyptischen Armee an Khalifa Hafter zu beweisen. Die Islamisten werden hingegen von Katar und dem Sudan beliefert. Nachdem eine Transportmaschine mit Munition aus Khartum in der Wüstenoase Kufra und Munition auf dem Militärflughafen Tripolis-Maitiga landete, ließ Premier Thinni den sudanesischen Militärattaché ausweisen.

 

Die lachenden Dritten sind dschihadistische Milizen, die sich in Sirte und Derna auf das völlige Chaos vorbereiten. Mit Kämpfern des »Islamischen Staates« (IS) in Syrien haben sie sich bereits solidarisch erklärt. Im Falle eines Bürgerkrieges wird IS auch in Libyen versuchen, Fuß zu fassen,« prophezeit der marokkanische Terrorismus-Experte Mohamed Chtatou. General Khalifa Hafter bekräftigt immer wieder, keinen Dialog mit Extremisten führen zu wollen. Er kündigt für Mitte September eine Großoffensive in Benghazi und Tripolis an.

 

Westlich der Hauptstadt kam es bereits zu Artillerieduellen mit 13 Toten. »Wir werden bis nach Zintan ziehen und das ganze Land befreien«, so ein Kommandeur. Wie die Berber in den Nafusa-Bergen haben aber auch andere Gruppen genug von der Politik des Stärkeren. Ohne Kompromiss, könnte es bald weit mehr als zwei Regierungen und Parlamente geben, so Aktivist Buzakhar. »Es gibt doch genug Öl, Wohlstand und Platz für alle hier, aber vielleicht ist das ja auch unser Fluch.«

Von: 
Mirco Keilberth

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