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Theater in Istanbul

»Kunst lässt sich nicht ausstoßen«

Interview
von Arzu Eti

Im Istanbuler Stadtteil Kadıköy fand für eine Woche eine pausenlose Bühnenshow statt – ein theatralischer Protest gegen die Schließung des Stadttheaters. zenith sprach mit der Mitorganisatorin Aslı Öngören.

Die Vorführungen dauerten insgesamt sieben Tage, 24 Stunden am Stück, unterstützt von zahlreichen Künstlern wie Genco Erkal, Tülay Güral, Vedat Sakman oder Levent Kırca Bereits zuvor gab es zahlreiche Proteste, aber dieser letzte Protest überragte all die anderen. »Wir schweigen nicht – Sus Muyoruz«, lautete das Motto der Veranstaltung. Seit dem 16. Juni blieb die Bühne im Selamiçeşme-»Freiheitspark« nie leer, sowohl tags als auch nachts bis in den frühen Morgen. Grund für diesen außergewöhnlichen Protest war der Versuch der Regierung, die Stadttheater in der Türkei abzuschaffen. Derzeit werden zwei verschiedene Gesetzentwürfe in der Staatskanzlei und dem Kulturministaerium besprochen, die beide die Schließung der Stadttheater vorsehen.Theaterkünstler definierten diesen Vorgang schlicht als ein Attentat auf die Kunst. Wir haben Aslı Öngören, Stadttheaterschauspielerin und Mitglied des Stadttheatervereins Istanbul hinter den Kulissen getroffen.

 

 

zenith: Wie sind Sie auf die Idee für dieses Projekt gekommen?

Aslı Öngören: Der Schauspieler Engin Alkan meinte spontan: Warum bringen wir nicht einfach ein Theater ohne Ende auf die Bühne?  Wir haben diese Veranstaltung dann gemeinsam mit dem İSTİŞAN (»Verband für Stadttheater-Künstler«) geplant. Wir wollten, dass man unsere Stimme endlich hört, es ist ein Schrei, daher musste es etwas Außergewöhnliches sein. So wie ein Marathon. Gestartet haben wir am 16. Juni um 17:00 Uhr mit einer Pressemitteilung und nun haben wir inzwischen weit über 100 Stunden hinter uns. Die Bühne blieb nie leer und auch unsere Zuschauer haben uns nicht im Stich gelassen. Viele Künstler geben uns ihre Unterstützung, auch spontane Mitwirkungen sind stets willkommen. Künstler wie Genco Erkal, Vedat Sakman und Levent Kırca geben sich hier gegenseitig eine Bühne, es herrscht eine wahre Künstlersolidarität.

 

Solidarität gegen wen?

Unser Aufstand richtet sich gegen die Schließung der Stadttheater, die ohne die Unterstüztung des Staates nicht alleine auf den Beinen stehen können. In diesem Fall sind sie ein Teil der Volksbildung. Das möchten wir dick unterstreichen. Unser Ministerpräsident macht uns Künstler zum »Andere«. In seinen Augen sind wir Künstler ein Haufen Jakobiner, so wurden wir beschuldigt. Es ist uns unverstaendlich, warum wir als Künstler, die in diesem Land herangewachsen sind, derart ausgestoßen werden. Unser Land macht derzeit dunkle Zeiten durch und wir erhalten unseren Teil hiervon als Theater. Es herrscht eine Verwandlung im Land, es geht um Gesetze, die unsere allgemeine Gesundheit und Bildung stark beeinträchtigen.

 

Und wie wurde die Veranstaltung von den Menschen in Kadıköy angenommen?

Man sollte in solchen Zeiten nicht in die Lage von Klaus Manns »Mephisto« geraten. Wenn das Bewusstsein der Menschen ansteigt, wird auch unsere Anzahl ansteigen. Viele unserer Freunde sind heute hier. Die Organisation lief ganz von alleine, dank den sozialen Medien. Plötzlich hieß es: »Du, da findet was statt!« Es sind auch Kinderspiele, Phandominen, Forums und Fingertheater zu sehen. Einige Menschen haben sich wegen des Lautstärke, die eigentlich absolut normal sind, bei der Polizei beschwert. Wir wurden 3 Tage aufeinander regelmäßig von der Polizei aufgesucht, jedesmal mussten wir unsere Genehmigungen zeigen und es ging weiter, denn wir tun alles im rechtlichen Rahmen. Viele Zuschauer aus der Nachbarschaft begrüßen uns morgens mit Kaffee und Tee.

 

Wie ist das Echo in der Presse?

Manche Dinge werden einfach nicht erwähnt,  aber wer glaubt, dass uns das lahmlegt, irrt sich – jetzt erst recht! Die Hauptmedien haben uns in den ersten Tagen des Marathons ignoriert, aber nach und nach tanzen sie nun langsam an. Wir, die zivilen Gesellschaftsvereine, müssen uns zusammentun und gemeinsam handeln, das macht uns stärker und lauter. Das war auch der Hauptgrund für den Marathon. Sowohl der Minsiterpräsident als auch Ärzte, Arbeiter, Kinder, alle sind unsere Zuschauer. Wir haben immer ein Wort zu sagen und wollen dies auf der Bühne machen, gegenüber unseren Zuschauern. Unser Aufruf richtet sich an alle.

 

Es wurde dem Stadttheater auch vorgeworfen, das es keinen Gewinn abwerfen würde.

Das Theater zu schließen, weil es keinen Gewinn abwirft, ist einfach nicht akzeptabel. Stadttheater werden überall auf der Welt vom Staat unterstützt, sie sind keine Geldmaschinen sondern eine Kulturunterstützung für das Volk. Wenn man sich in unserem Fall  zusammengesetzt und eine Lösung oder Besserung gesucht hätte, wären wir heute schon viel weiter. Aber diese Einstellung, die uns Künstler ausstößt, anttäuscht uns. Denn Kunst lässt sich nicht ausstoßen, sie findet immer irgendeinen Weg und kommt zu Wort. Aber wenn die Stadttheater geschlossen werden, andere Theater wiederrum umgekrempelt, dann erwartet unsere kommende Generation eine kulturarme, karge Zukunft. Davor sollten wir uns alle fürchten.


Aslı Öngören,

wurde 1968 geboren. Ihr erstes Theaterstück »Wind oder Mühle« erhielt den ersten Preis des Schweizer Krankenhaus-Wettbewerbs. Mit ihrer Darstellung von Brechts »Der Kaukasische Kreidekreis« (1998) und »Schweyk im 2.Weltkrieg« (2002) erhielt sie jeweils die »Afife Jale«-Theaterauszeichnung. Sie ist Mitglied des Istanbuler Stadttheaters und dem Verein für Stadttheaterkünstler.

 

Die Dokumentation des Kunstmarathons kann unter dem folgenen Link verfolgt werden: www.sanatmaratonu.com

Von: 
Arzu Eti

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