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Tahar Ben Jellouns »Eheglück«

Die Sache mit der Krankenschwester

Feature

Tahar Ben Jellouns »Eheglück« überrascht weniger mit seiner Geschichte als mit Parallelen zum aktuellen Buch Martin Walsers. Das französische Original erschien ein Jahr vor Walsers »Die Inszenierung«. Zufall, Absicht – oder ein Skandal?

Am Ende braucht es nicht viel, um einen Streit zu provozieren. Eine Geste reicht, um vergangene Auseinandersetzungen wieder wachzurufen. Doch anstatt sich zu trennen, auseinanderzugehen, harren die Partner aus. Leben miteinander. Oder nebeneinander her. Und warten auf den nächsten Streit. Tahar Ben Jelloun zeichnet in dem Mitte Januar auf Deutsch erschienenen Roman »Eheglück« ein finsteres Bild von einer Beziehung im Endstadium.

 

Die Positionen sind unverrückbar eingenommen, jede Seite bleibt in Deckung, bis die nächste Auseinandersetzung ansteht. Es wird – wenngleich nur mit Worten und nie in einer direkten Konfrontation – scharf geschossen. Die Geschichte ist schnell erzählt. Ein Künstler, dessen Namen der Leser nicht erfährt, erleidet bei einem heftigen Streit mit seiner Ehefrau einen Schlaganfall und liegt monatelang im Bett. Es ist unsicher, ob er – der berühmte Maler, der nach vielen Jahren in Paris nun wieder in Marokko lebt – jemals wieder wird arbeiten können.

 

Erst durch eine Krankenschwester und deren hingebungsvolle Pflege schöpft er wieder Hoffnung auf Genesung. Er verliebt sich in sie und ist sich sicher: Diese Frau ist die Richtige, die Wahre. Doch seine Ehefrau, erfahren in seinen zahllosen Affären, spürt, dass es dem Mann mit dieser Frau ernst ist. Sie spricht mit der Krankenschwester, und es stellt sich heraus, dass diese verlobt ist und in Kürze ihrem zukünftigen Ehemann nach Belgien folgen wird.

 

Das Skelett einer Ehe

 

»Eheglück« erzählt diese Geschichte zunächst aus der Perspektive des Mannes, dann aus der Sicht der Ehefrau. Durch die einseitigen Sichtweisen schärft Ben Jelloun den Blick auf das Skelett, das von der Ehe übrig geblieben ist. Doch die Spuren, die zu diesem Endstadium führen, sind dürftig. Ben Jelloun bleibt an der Oberfläche. Nie taucht er in die Persönlichkeiten ein, es wird nicht reflektiert und nicht erzählt, der Leser versteht den Anfang nicht und bleibt aus diesem Grunde außen vor.

 

Das mag in einer kurzen Geschichte als Kunstgriff funktionieren, auf 316 Seiten aber fühlt man sich alleingelassen. Denn auch dann, als er schon lange verstanden hat, dass es nur um die Vorwürfe geht, die die Ehepartner einander machen, und nicht um die Wirklichkeit, kann der Leser den Raum nicht verlassen, in dem sie streiten. Sondern muss bleiben und zuhören, bis er selbst die beiden Protagonisten, ihre sich wiederholenden Anschuldigungen und die gallige Sprache nicht mehr ertragen kann.

 

Es gibt aber durchaus einen Grund, sich mit Tahar Ben Jellouns »Eheglück« doch zu befassen. Er besteht in der Frage, in welchem Zusammenhang dieser zu Martin Walsers Roman »Die Inszenierung« steht. Denn Walser erzählt in seinem – im Sommer 2013 erschienenen – Buch eine Geschichte, die der des marokkanischen Autors auf frappierende Weise ähnelt. In der »Inszenierung« ist es ein deutscher Regisseur, Augustus Baum, der während der Proben zu einem Theaterstück einen Schlaganfall erleidet.

 

Im Krankenhaus verliebt er sich in die Nachtschwester. Sie gibt sich ihm hin. Seine Ehefrau, eine erfolgreiche Ärztin, die ihm jeden Morgen das Frühstück ans Krankenbett bringt, kennt ihren Mann und seine Affären gut. Sie ahnt, dass es ihm dieses Mal ein wenig ernster ist. Und mischt sich ein. Spricht mit der Krankenschwester Ute-Marie, die, wie sich herausstellt, ohnehin einen Verlobten hat, dem sie in Kürze ins schwedische Ausland folgen möchte. Das ist fast ohne Schlenker die gleiche Geschichte, wie wir sie bei Ben Jelloun finden. Wohlgemerkt: Dessen Band erschien im französischen Original rund ein Jahr vor Walsers Buch.

 

»Kenne weder Buch noch Person«

 

Für die Ähnlichkeiten dieser beiden Romane gibt es drei mögliche Szenarien: Zufall, Absicht. Oder einen Skandal. Für den Zufall spricht zunächst, dass beide Autoren Männer fortgeschrittenen Alters sind. Ben Jelloun ist 69, Martin Walser 86 Jahre alt. Da sind Ehen im Endstadium, Schlaganfälle und eine Krankenschwester, die sich um den Blessierten kümmert, keine so überraschende Auswahl an Instrumentarien und Figuren für einen Roman.

 

Was die Theorie eines Zufalls allerdings deutlich überdehnt, ist der Umstand, dass die Krankenschwester in beiden Plots einen Verlobten im Ausland hat, dem sie bald folgen will. Und dass es in beiden Geschichten die Ehefrau ist, die mit der Krankenschwester spricht. Dass die beiden Geschichten sich so ähneln, könnte auch für Absicht sprechen. Ohne Weiteres wäre vorstellbar, die beiden bekannten Schriftsteller hätten das Thema bei einem guten Tropfen Wein zusammen ausdiskutiert.

 

Um sich dann, einem Wettbewerb gleich, unter ähnlichen Voraussetzungen hinzusetzen und zu schreiben. Freilich liegt über ein Jahr zwischen der ersten Veröffentlichung von Ben Jellouns »Eheglück« als »Le bonheur conjugal« am 22. August 2012 bei Gallimard und der Publikation von »Die Inszenierung« am 30. August 2013 bei Rowohlt. Hätte Martin Walser ein Jahr länger an seinen rund 180 Seiten geschrieben als Ben Jelloun an 316 Seiten? Und hätte der Spaß nicht gerade darin bestanden, beide Bücher gleichzeitig zu veröffentlichen?

 

Tatsächlich kennen sich die beiden Herren nicht. Auf Nachfrage erklärten beide, sie seien sich persönlich nie begegnet, und während Tahar Ben Jelloun sagt, ihm sei Martin Walsers Werk vertraut, antwortete dieser postalisch auf die zenith-Nachfrage, ob ihm Ben Jelloun und dessen Roman bekannt seien: »Kenne weder Buch noch Person.«

 

Das Ende der Geschichte bei Walser

 

Würde man diese Aussage Walsers ignorieren, bestünde eine weitere Möglichkeit: Szenario Nummer drei. Denn ein Jahr ist wiederum auch eine lange Zeit — zwölf Monate lang genug, um sich von einer Geschichte inspirieren zu lassen und sie in eigenen Worten noch einmal neu zu erzählen. Neben der Ähnlichkeit der gesamten Geschichte und der eindimensionalen Erzählperspektive – bei Ben Jelloun Mann und Frau nacheinander, bei Walser nur der Mann – spräche dafür vor allem der impulsive, überraschende Schluss bei Walser, der sich auf den vorangegangenen 166 Seiten so nicht ankündigt.

 

Während in Ben Jellouns »Eheglück« rasch klar wird, dass es den Protagonisten in einer Ehe nur darum geht, wer die Macht hat, wie diese verteilt ist und welche Spiele man spielen muss, um diese wiederzuerlangen, wenn man sie verloren hat, deutet bei Walser zunächst nichts darauf hin, dass es Augustus und Gerda Baum in der »Inszenierung« im Grunde auch nur um diesen Machtanspruch geht. Walser porträtiert Augustus Baum als reflektierten Mann. Er betört mit seiner ruhigen Sprache, macht die Geschichte nachvollziehbar, erfahrbar.

 

Man kommt der Hauptfigur ganz nahe, fast schon sonnt man sich in der überhöhten Form des intellektuellen Leidens – und wird dann umso mehr überrascht, als dieses in einem Ausbruch schnöde zerschlagen wird: »Ihr verlangt seine Unterwerfung. ... Das ist euer Ein und Alles. Herrschen. Und dieses Herrschen nennt ihr Liebe«, klagt Augustus in einem Ausbruch »vor dem Gerichtshof der Liebe« nicht nur seine Frau, sondern zugleich die Krankenschwester in deren Abwesenheit an.

 

Und zetert weiter: »Ihr versprecht dem Mann den Himmel, wenn er sich euch unterwirft. Und ihr überzieht ihn mit der Hölle, wenn er sich euch nicht bedingungslos unterwirft.« Diese Tonlage kennt der Leser gut: aus Ben Jellouns »Eheglück«. Die Aussage unterscheidet sich kaum von dem Resümee des Malers dort: »Wenn er bei seiner Frau und seinen Kindern bleiben will, muss er sich unterwerfen.«

 

Hat sich Martin Walser von Tahar Ben Jelloun inspirieren lassen?

 

Was folgt daraus? Hat sich Martin Walser, einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller, von dem nicht minder bekannten marokkanisch-französischen Autor Tahar Ben Jelloun inspirieren lassen? Fehlte ihm, der zuletzt fast jährlich einen Roman veröffentlicht hat, die zündende Idee? Die Frage wird sich hier nicht klären lassen. Überraschend erscheint zumindest, dass Walser den Namen Ben Jelloun – immerhin einer der bekanntesten literarischen Vertreter des Maghreb – noch nie zuvor gehört haben mag.

 


Eheglück

Tahar Ben Jelloun

Berlin Verlag, 2014

320 Seiten, 19,99 Euro

Von: 
Elisabeth Knoblauch

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