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Revolutionsjubiläum und Verfassungsreform

Extraschicht für den Jubiläumscoup

Analyse

Tunesiens Parteien raufen sich für ein ehrgeiziges Ziel zusammen: Zum 3. Jahrestag der Revolution soll endlich die neue Verfassung stehen. Doch reichen zwei Wochen, um tief sitzendes Misstrauen zu überwinden und einen Konsens zu erreichen?

Nun soll es plötzlich recht schnell gehen. Die verfassungsgebende Versammlung Tunesiens begann am Freitag, dem 3. Januar 2014, über den Entwurf der Verfassung Artikel für Artikel abzustimmen. Folgt die Nationalversammlung ihrem Zeitplan, wird die Abstimmung über die Gesamtheit des Verfassungstexts am Montag, dem 13. Januar, beendet sein. Wenn er die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Abgeordneten erhält, gilt er als angenommen, andernfalls wird das Volk in einem Referendum gebeten, darüber abzustimmen.

 

Damit könnte die Verfassung vor dem zweiten Jahrestag der Revolution am 14. Januar beschlossen sein. Der Verfassungsentwurf hatte monatelang in der Schwebe gehangen, nachdem im Juli 2013 mit Mohamed Brahmi ein zweiter Politiker des linken politischen Spektrums und Mitglied der Nationalversammlung ermordet worden war. Dies änderte sich erst am 14. Dezember, als nach zähem Ringen und unter Vermittlung etwa der Gewerkschaftsvertretung UGTT sich die Parteien des Landes auf ein neues, geschäftsführendes Kabinett einigten.

 

Dieses soll das Land verwalten, bis auf Basis der neuen Verfassung Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten werden. Zum Übergangspremier wurde der parteilose bisherige Industrieminister Medhi Jomaa bestimmt. Der jüngste Kompromiss kam allerdings erst zustande, nachdem das Oppositionsbündnis um Nidaa Tounes die Gespräche verlassen hatte. Die Nationalversammlung tagt seit dem 2. Januar, doch ob sie den Zeitplan einhalten kann, ist fraglich.

 

Während der ersten zwei Sitzungstage wurden gerade einmal 15 der insgesamt 146 Artikel der Verfassung verabschiedet. Die rund 300 Änderungsanträge füllen 86 Seiten. Trotz der vielen Vereinbarungen, die in den Ausschüssen getroffen wurden, wird leidenschaftlich debattiert.

 

Ein Fortschritt für die Gewissensfreiheit – mit Einschränkungen

 

So schlagen die Wellen hoch, als der erste Artikel verabschiedet wird. Die Beibehaltung der Formulierung aus der Zeit der Staatsgründung (»Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat. Der Islam ist seine Religion, Arabisch ist seine Sprache und die Republik ist seine Staatsform.«) bedeutet, dass die Scharia, nicht die Quelle des Rechts sein wird. Zwei Änderungsanträge, von der einer den Islam und der andere den Koran und die Sunna als »Hauptquelle der Gesetzgebung« vorschlugen, wurden abgelehnt.

 

Damit folgten die Abgeordneten dem Kompromiss zwischen der islamischen Ennahda und der Opposition. Der Artikel ist Teil einer Reihe von Paragrafen, die als unabänderlich festgeschrieben wurden. Auch andere Artikel werden aufgrund der Unschärfe ihrer Formulierungen kritisiert, insbesondere Artikel 6, der den Staat als »Garanten der Gewissensfreiheit« verankert. Die Freiheit, Werte, Prinzipien und Ideen – das heißt auch die Wahl der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einer Religion – selbst zu wählen, bedeutet eine echte Neuerung für den tunesischen Staat.

 

Allerdings wird die Gewissensfreiheit schon im darauffolgenden Satz insofern relativiert, als dass der Staat zum »Beschützer des Heiligen« erklärt wird. Die vage Formulierung des Artikels wurde von Nichtregierungsorganisationen, wie der tunesischen Menschenrechtsliga, kritisiert, die aufgrund der mangelnden Definition des »Heiligen« befürchten, er könnte später so interpretiert werden, dass er andere Freiheiten bedrohe.

 

Des Weiteren warnten vier andere Organisationen – Al-Bawsala, Amnesty International, Human Rights Watch und das Carter Center – davor, Artikel 21 unverändert beizubehalten. In diesem wird festgelegt, dass »das Leben heilig« sei. Allerdings enthält der Artikel auch einen Absatz zur Rechtmäßigkeit der Todesstrafe »in gesetzlich geregelten Extremfällen«. Änderungsanträge, die die Todesstrafe aus dem Artikel streichen wollten, wurden abgelehnt.

 

Ein Tumult am Rande und die Grenzen der Meinungsfreiheit

 

Die größte zu erwartende Veränderung betrifft das politische System selbst. Bisher war das politische System Tunesiens, wie das der meisten arabischen Republiken, strikt präsidentiell. Ennahda hatte sich bei ihrem ersten öffentlichen Kongress seit 1988 für die Einführung eines parlamentarischen Systems ausgesprochen, um das Gleichgewicht zwischen »der Rolle des Staates und der Zivilgesellschaft wiederherzustellen, um eine totale Kontrolle des Staates zu vermeiden«, so der Präsident des Parteikongresses, Abdellatif Mekki.

 

Nach einem Übereinkommen zwischen Ennahda und soll das Land stattdessen eine Mischform mit drei statt zwei Polen erhalten, das heißt eine Gewaltenteilung zwischen dem Präsidenten, dem Premierminister und dem Parlament. Der Verfassungsentwurf sieht vor, dem Präsidenten die Befugnisse in Sachen der Verteidigung, der Außen-und Sicherheitspolitik, sowie die Ernennung von Diplomaten und den höchsten Ämtern der Armee zu übertragen, wohingegen der Regierungschef für die allgemeine Politik des Landes zuständig ist.

 

Auch bleibt abzusehen, ob sich Tunesien in die Reihe der arabischen Länder einreiht, die keine Beziehungen mit Israel unterhalten. Artikel 27 des ersten Verfassungsentwurfs betrachtet »alle Formen der Normalisierung mit dem Zionismus und dem zionistischen Gebilde (das heißt Israel) als strafbar«. Manche Änderungen des Verfassungsentwurfs kommen unverhofft durch die Hintertür.

 

So war die Plenarsitzung am 6. Januar für die Wahl der Mitglieder der Wahlkommission vorgesehen, doch das entsprechende Komitee hatte sich noch nicht auf eine Liste der Nominierten für das neunköpfige Gremium einigen können. Die Abstimmung war eigentlich schon für den vorherigen Tag vorgesehen gewesen, doch innerhalb des Komitees kam es zu Tumulten. Ennahda-Mitglied Ellouze Habib hatte den linken Volksfront-Abgeordneten Mongi Rahoui als »Feind des Islam« bezeichnet.

 

Rahoui erhielt daraufhin Morddrohungen. Die Opposition brachte aus diesem Anlass erneut einen Änderungsantrag zu Artikel 6 ein, der »Takfir«, also der Vorwurf des »Unglaubens«, verbietet. Menschenrechtsaktivisten sehen die Annahme dieses Antrags von einer Mehrheit der Abgeordneten allerdings kritisch. So konstatierte die Aktivistin Amira Yahyaoui von Al-Bawsala die Ironie, dass nun die Linke die Meinungsfreiheit beschneide, die der Artikel eigentlich gewährleisten sollte.

Von: 
Johanne Kübler

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