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Religionszugehörigkeit im Libanon

Die Wehen des Säkularismus

Feature

Ghaddi Darwiche ist das erste Neugeborene ohne Religionszugehörigkeit im Libanon. Seine Eltern beriefen sich hierfür auf einen Paragrafen aus der Mandatszeit. Doch läutet der umjubelte Säugling auch die säkulare Wende im Zedernstaat ein?

Es war auch bei dieser Geburt der erste Schrei des Säuglings, mit dem alle Anstrengung wie eine sanft gezupfte Feder von der Gänsehaut der Eltern abfiel und sanft zu Boden gleitete. Doch der Geburtsschrei von Ghaddi Darwiche am 29. September dieses Jahres in einem Beiruter Krankenhaus hallte weiter – aus den Gängen des Kreißsaales hinaus auf die Straßen des Libanon. So, dass jeder ihn hörte.

 

Denn Ghaddi ist das erste Kind im Libanon, dass ohne feststehende Konfession zur Welt kam. Seine Eltern Nidal Darwiche und Khulud Sukkaria ließen das Feld »Religionszugehörigkeit« in der Geburtsurkunde bewusst frei. Eine epochemachende Tatsache in einem Land, in dem das gesamte politische System auf einem gesellschaftlichen Ausgleich der unterschiedlichen Religionen und Konfessionen beruht.

 

Doch die Geschichte begann schon viel früher. Denn Nidal Darwiche und Khulud Sukkaria sind nicht nur die stolzen Eltern des ersten Sprösslings ohne festgelegte Religionszugehörigkeit. Im Januar 2013 schlossen sie außerdem die erste zivile Ehe in der Geschichte des Libanon. Da im Libanon traditionell nur nach religiösem Zeremoniell geheiratet wird, müssen Heiratswillige unterschiedlicher Konfessionen zur Eheschließung ins Ausland reisen. Viele libanesische Paare fahren dafür beispielsweise ins nahe gelegene Zypern. Die dort ausgestellte Heiratsurkunde muss dann vom dortigen Außenministerium sowie der libanesischen Botschaft in Nikosia noch beglaubigt werden. Ein mühevoller bürokratischer Akt, begleitet von unzähligen Formularen.

 

Säkulare Heirat auf libanesischem Boden

 

Doch Nidal und Khulud nutzten eine Lücke im System, um eine säkulare Heirat auf libanesischem Boden durchzusetzen. Zunächst ließen sie ihre Religionszugehörigkeit – Khulud ist Schiitin, Nidal Sunnit – aus dem Personenregister streichen. Daraufhin pochten die nun konfessionslos Gewordenen auf die Anwendung eines Paragrafen aus der französischen Mandatszeit. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1936 sieht vor, dass Personen, die keiner Religionsgruppe angehören, auch nicht von einer Religionsgruppe getraut werden sollen.

 

»In einem solchen Fall müsste eine Eheschließung zivilrechtlich vollzogen werden«, erläuterte Talal al-Husseini, Anwalt des Paares, gegenüber der Agentur IPS News die Strategie. Und so kam es. Im April besiegelte Innenminister Marwan Charbel das Gelübde der Vermählten, indem er ihren Trauschein persönlich unterschrieb. Vorausgegangen waren teils heftige Debatten, in denen sich Präsident Michel Suleiman jedoch konsequent auf die Seite der Befürworter der Zivilehe stellte.

 

Die wegweisende Entscheidung zu Gunsten der zivilrechtlich geschlossenen Ehe gaben den säkular orientierten Kräften im Libanon enormen Aufwind. Das erklärte Ziel der Säkularisten: Ein säkularer Libanon jenseits konfessioneller Ränke.

 

Bereits in einem zenith-Interview vom Mai 2011 brachte der ehemalige libanesische Innenminister Ziyad Baroud die Forderungen der säkularen Bewegung im Libanon folgendermaßen auf den Punkt: »Ich habe selbst auf Zypern geheiratet – obwohl ich das nicht musste, weil meine Frau auch Christin ist. Wir haben das aus Überzeugung getan. Das was man glaubt, muss man auch praktizieren. Mit Religion hat das nichts zu tun, ich gehe ja noch immer jeden Sonntag in die Kirche. Aber wir müssen unseren religiösen Glauben vom politischen Leben trennen. Das konfessionelle Regime in all seinen Ausprägungen macht unser Leben kompliziert.«

 

Der Präsident twittert seine Glückwünsche höchstpersönlich

 

Am 26. Oktober machten die Eltern des kleinen Ghaddi Darwiche die Geburtsurkunde über Facebook und Twitter publik. Prompt trafen Glückwünsche von ganz oben ein. Präsident Suleiman twitterte höchstpersönlich: »Glückwünsche an Nidal und Khulud und die Libanesen zur Geburt von Ghaddi, dem ersten Neugeborenen ohne Konfessionszugehörigkeit«. Viele schlossen sich den Glückwünschen an und brachten ihre Hoffnungen für die Zukunft zum Ausdruck.

 

Und auch die kritischen Stimmen äußern sich bisher in gemäßigtem Ton: Keine Religionszugehörigkeit auf dem Papier zu besitzen, hieße ja nicht, gar keiner Religion zu folgen. Im Alltag könnten daraus freilich Probleme erwachsen. Ein Gratulant merkte in seinem Facebook-Post an: »Eine gute Initiative, aber leider wird das Kind vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen, wegen der Abhängigkeit des Staates, Jobs anhand der Konfession und nicht der Leistung zu verteilen.«

 

Gerade wegen des allgegenwärtigen konfessionell gebundenen Proporzes in vielen Ämtern und Berufen im Libanon steht die Befürchtung im Raum, die Entscheidung seiner Eltern könnte für Ghaddi Darwisch zum Stigma werden. Doch deren Rechtsanwalt, Talal al-Husseini, konterte derartige Zweifel bereits im Vorfeld: »Wir haben geklärt, dass die individuellen Rechte geschützt sind.« Außerdem führe das Ausstreichen der Konfession auch nicht zum Verlust des Erbrechts – bedeute es doch einzig die Verweigerung, seinen Glauben öffentlich zu machen.

 

Die stille Macht des Konfessionsproporzes

 

Im Gespräch mit zenith erklärte der Libanon-Experte Theodor Hanf, dass es zwar prinzipiell eine Mehrheit gegen den Konfessionalismus und für einen säkularen Staat gebe. »Geht es aber an die Details, stößt man auf Widerstand. Jeder will einen zivilen Staat, aber Zivilgesetzgebung – etwa die Zivilehe – hat es schwer.« Letztlich spielt die Macht, die das paritätische System den einzelnen Konfessionen zusichert, die übergeordnete Rolle.

 

»Die Libanesen haben sich im Großen und Ganzen mit dem System arrangiert und können ganz gut damit leben.« So erregt im Augenblick nicht in erster Linie Ghaddis Konfessionslosigkeit tatsächlich Anstoß. Viel mehr sind es die Komplikationen, die dies in seinem weiteren Leben mit sich bringen wird. Eine säkulare Identität erblickt im Libanon das Licht der Welt. Und wie jede Geburt wird auch diese von starken Wehen begleitet.

Von: 
Ruben Schenzle

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