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Regierungskrise im Jemen

Das kontrollierte Chaos von Sanaa

Analyse

Hinter Jemens Regierungskrise stecken handfeste Interessen, um die unter anderem Huthis und Präsident Hadi seit Monaten ringen – und eine Eskalation in Kauf nehmen. Doch auch Separatisten im Süden sowie Al-Qaida sehen ihre Stunde gekommen.

Nachdem Präsident und Regierung am 22. Januar 2015 zurückgetreten sind, befindet sich der Jemen im Ausnahmezustand. Hinter den Kulissen wird verhandelt, während die verunsicherte Bevölkerung abwartet. Es ist unklar, ob die Lage eskaliert, oder ob eine politische Lösung gefunden werden kann. Während man in Sanaa darauf harrt, dass die politischen Akteure Vorschläge für die Lösung der derzeitigen Regierungskrise präsentieren, erwarten die Menschen in Aden die Erklärung der Sezession des Südjemen.

 

Die aktuelle Krise im Jemen ist auf eine Zuspitzung der politischen Situation in Sanaa vergangenen Sonntag, dem 17. Januar, zurückzuführen. An diesem Tag sollte der lange erwartete Verfassungsentwurf einem Komitee übergeben werden, welches die Übereinstimmung der Verfassung mit den Ergebnissen der Nationalen Dialogskonferenz (NDK) überprüfen soll. Die NDK endete im Januar 2014 nach zehnmonatiger Beratung unter 565 Delegierten aus allen Teilen des Landes mit über 1.800 Empfehlungen für den Aufbau einen »neuen Jemen«.

 

Eine der wichtigsten Empfehlungen war die Einführung eines föderalen Systems. Genau hierum ging es, als die Rebellengruppe der Huthis, die im September 2014 die Hauptstadt eingenommen hat und seitdem durch Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi regierte, am Morgen des vergangenen Sonntag den Büroleiter des Präsidenten, Ahmed bin Mubarak, entführten. In der NDK hatte man sich nicht auf die Aufteilung der zukünftigen föderalen Regionen einigen können und so setzte Präsident Hadi im Frühjahr 2014 eine nicht-repräsentative Kommission ein, die diese festlegte.

 

Die Huthis hatten auf die Kontrolle einer eigenen föderalen Region im Norden des Landes unter Einbeziehung der zu ihrer Provinz Saada in Nachbarschaft gelegenen Gouvernorate Hajja (mit Zugang zum Meer) und al-Jawf (mögliche Ölvorkommen und kulturelle Gemeinsamkeiten) gehofft. Die vorgesehene föderale Aufteilung schlug diese Gouvernorate jedoch jeweils anderen föderalen Regionen zu und stellte die von den Huthis dominierte Provinz Sa’da mehr oder weniger unter die Kontrolle der Hauptstadt Sanaa. Diese föderale Aufteilung neu zu verhandeln war an diesem Sonntag das Ziel der Huthis.

 

In den folgenden Tagen eskalierte die Situation jedoch weiter, was wohl unter anderem auch der Tatsache geschuldet ist, dass die im November neu eingesetzte Regierung die Diskussion der Verfassung nicht aussetzen und sich von den Huthis unter Druck setzen lassen wollte. Die Regierung unter Premierminister Khaled Bahah, die hauptsächlich aus Technokraten bestand, hatte sich auch in den vergangenen Monaten gegen die Huthis zur Wehr gesetzt.

 

Deren Forderung, dass alle Posten in den Ministerien zur Hälfte mit Huthi-Anhängern zu besetzen seien, wurde abgelehnt, was jedoch oftmals zu einer Blockade der Regierungspolitik durch die Huthis führte. Am Montagmorgen griffen die Huthis den Präsidentenpalast und die Residenz des Präsidenten an. 15 Menschen starben an diesem Tag, zahlreiche weitere wurden bei den Kämpfen an strategischen Positionen in der ganzen Stadt verletzt. Den Huthis ging es hierbei jedoch nicht um eine Absetzung des Präsidenten und Premierministers, also nicht um einen Coup im direkten Sinne, sondern um eine Machtdemonstration und eine Neuaushandlung weiterer Zugeständnisse durch Hadi und die Regierung.

 

Welche Rolle die dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdallah Salih nahestehenden Sicherheitskräfte spielten, ist unklar. Sein Sohn, eigentlich jemenitischer Botschafter in den Vereinigten Arabischen Emiraten, soll sich seit einer Woche wieder in der Hauptstadt befinden und eine Einheit bei den Kämpfen befehligt haben. Am Abend einigten sich die Konfliktparteien auf einen Waffenstillstand und auf eine Überarbeitung des Verfassungsentwurfes.

 

Die Huthis dehnen ihren Einfluss aus, um weiteren Druck auf die Regierung auszuüben – ohne dabei jedoch ihren Teil der Abmachung zu erfüllen

 

Am Abend eines weiteren angespannten Tages am Dienstag, an welchem die Huthis die Kontrolle über den Präsidentenpalast und das Areal rund um Hadis Residenz aufrecht hielten, legte ihr Anführer Abd al-Malik al-Huthi bei einer Fernsehansprache auf dem von den Huthis kontrollierten TV-Sender Al-Masira deren Forderungen dar: a) die Kommission zur Überprüfung der Übereinstimmung der Verfassung mit den NDK-Ergebnissen sollte reformiert und b) die Verfassung überarbeitet werden; c) das im September unterschriebene Friedens- und Nationale Partnerschaftsabkommen (FNPA) sollte nun endlich umgesetzt und d) die Situation im Gouvernorat Marib gelöst werden.

 

Ansonsten würde man weitere Maßnahmen ergreifen. Während die ersten beiden Forderungen vor allem auf die Neuverhandlung der föderalen Aufteilung abzielte, war Forderung c) wohl eher gedacht, den Aktionen der Huthis weiterhin Legitimität im Rahmen ausgehandelter Verträge zu geben. Die Huthis kontrollieren de facto seit September 2014 die Hauptstadt und haben das FNPA in den vergangenen Monaten dazu genutzt, ihren Einfluss gen Süden und Westen auszudehnen und weiteren Druck auf die Regierung auszuüben – ohne dabei jedoch ihren Teil der Abmachung zu erfüllen. Die letzte Forderung war eine implizite Kriegserklärung gegen die Stämme in der öl- und gasreichen Provinz Marib, deren Kontrolle die Huthis anstreben.

 

Die dort lebenden Stämme haben sich in der Vergangenheit oftmals dem Einfluss der Zentralregierung widersetzt. Anschläge auf das Elektrizitätswerk, das Sanaa mit Strom versorgt, gehen auf das Konto dort ansässiger Akteure und in den vergangenen Monaten haben sich in der Provinz mehr und mehr Mitglieder von Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) versammelt. Die Huthis liefern sich in anderen Gouvernoraten südlich von Sanaa einen erbitterten Kampf mit AQAP, dem derzeit wahrscheinlich stärksten Ableger von Al-Qaida weltweit.

 

In Aden wird die Unabhängigkeit des Südjemens verkündet

 

Werden die Huthis als einziger jemenitischer Akteur wahrgenommen, der willens und dazu in der Lage ist, Al-Qaida und verwandte Organisationen im Jemen erfolgreich zu bekämpfen, konnten im Umkehrschluss AQAP und verwandte Organisationen wie Ansar al-Scharia in den vergangenen Monaten großen Zulauf unter denjenigen Kräften verzeichnen, die sich gegen ein Vordringen der Huthis in ihre Regionen zur Wehr setzen wollten. In Marib scheint es nun auf einen Showdown zwischen den Huthis und den dortigen Stämmen hinauszulaufen, der mehr oder weniger direkt im Anschluss an die Rede Abd al-Malik al-Huthis begann.

 

Dass die Stämme Maribs hier neben Al-Qaida auch andere Unterstützer haben, wurde angesichts neuer Waffen und Autos in ihren Händen sehr schnell vermutet. Vieles deutet hier auf Saudi-Arabien und den nach Dschidda geflohenen ehemaligen General Ali Muhsin hin, die auf diese Weise versuchen könnten, die Huthis militärisch zu schwächen und so wieder einen Fuß in die Tür jemenitischer Innenpolitik zu setzen. Am Mittwoch wurde ein Abkommen zwischen dem Präsidenten und den Huthis veröffentlicht, in dem die Umsetzung der beiden zentralen Forderungen der Huthis, das heißt die Überarbeitung des Verfassungsentwurfs sowie Jobs für Huthi-Anhänger in den Ministerien, im Gegenzug für die Freilassung des weiterhin festgehaltenen Büroleiters des Präsidenten und den Rückzug der Huthis vom Präsidentenpalast und Hadis Residenz vereinbart wurden.

 

Auch der Schura-Rat sollte erweitert und die Situation in Marib schnellstmöglich geklärt werden. Am Donnerstag jedoch setzten sich die Kämpfe in Marib fort, während die Huthis erklärten, dass sie ihren Teil der Abmachung erst einhalten würden, wenn Präsident und Regierung alle anderen Teile des Abkommens umgesetzt hätten. Am Donnerstagabend um 21 Uhr verkündete Hadi dann auch noch die Ernennung eines Vizepräsidenten, Vize-Premiers und Vize-Justizministers, deren Personalien die Huthis zustimmen sollten.

 

Kurze Zeit darauf nahm er dann jedoch den Rücktritt des Premierministers und seinen Kabinetts an und reichte wenig später seinen eigenen Rücktritt verfassungsgemäß beim Parlamentspräsidenten ein. Um zehn Uhr abends erklärte daraufhin einer der Mitbegründer der »Bewegung des Südens« in Aden, General Nasir Al-Nuba, über das Fernsehen die Unabhängigkeit des Südens.

 

Saudi-Arabien hätte wohl dazu beigetragen, den Druck auf die Huthis zu verschärfen

 

Doch wie geht es nun weiter? Das Parlament hat den Rücktritt Hadis abgelehnt, wonach dieser formal noch 60 Tage im Amt bleiben muss. Danach fielen die Amtsgeschäfte bis zu Neuwahlen an den Parlamentspräsidenten Yahya Al-Rai. Ein Gespräch des UN-Sondergesandten Jamal Benomar mit Hadi hat diesen seitdem nicht zum Rücktritt vom Rücktritt bewegen können. Am Sonntag kommt das Parlament zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, während die Huthis die Einrichtung eines Präsidialrates verkündet haben.

 

Gleichzeitig haben sie die Abreise Hadis aus Sanaa verhindert – wohl aus Sorge, dass dieser nach Aden reisen und sich an die Spitze der dortigen Sezessionsbemühungen setzen könnte. Hadi stammt aus dem südlichen Gouvernorat Abyan und hat in den vergangenen Jahren seit seinem Amtsantritt viel in den Aufbau von personalisierten Loyalitäten im Süden investiert. Unklar ist, ob diese Investitionen ausreichen werden und wie sich die alteingesessene politische Elite des Südjemens positionieren wird.

 

Während die meisten Jemeniten die derzeitigen Entwicklungen mit großer Sorge betrachten, sehen einige auch eine Chance. Die Regierung und Präsident Hadi hätten richtig gehandelt, die Erpressung und schleichende Aneignung des Landes durch die Huthis endlich ein Ende zu setzen. Nun gebe es eine Chance für Neuverhandlungen, die die Huthis hoffentlich in ihre Schranken weisen würden. So bestehe auch die Hoffnung, dass diese vielleicht – auch unter dem Druck der Kämpfe in Marib – einlenkten und die soeben zurückgetretene Regierung doch wieder ihre Amtsgeschäfte aufnähme.

 

Der Tod des saudischen Königs Abdullah kommt da zu einem schlechten Zeitpunkt: Saudi-Arabien hätte wohl dazu beigetragen, den Druck auf die Huthis zu verschärfen. Nun sind die Saudis jedoch erst einmal mit sich selbst beschäftig. Bei einer diesen Freitagnachmittag stattfindenden Demonstration in Sanaa gegen Charlie Hebdo, die von den Huthis angekündigt wurde, lassen sich Salih-nahe Militärs gemeinsam mit Huthi-Unterstützern ablichten.

 

Während die Huthis auf diese Weise scheinbar Stärke demonstrieren und gleichzeitig Zeit gewinnen wollen, um sich angesichts dieser wohl von ihnen nicht vorhergesehenen Lage neu zu positionieren, wird die militärische Kontrolle Sanaas durch die Salih-Huthi-Allianz nun für alle sichtbar. Was dies für die Zukunft des Landes bedeutet und wie es nun weitergehen wird, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass von dieser Regierungskrise vor allem ein Akteur profitiert: Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel.


Marie-Christine Heinze ist Vorstandsvorsitzende des Zentrums für Angewandte Forschung in Partnerschaft mit dem Orient. Sie forscht seit 2008 zum Jemen.

Von: 
Marie-Christine Heinze

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