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Reformprozess in Marokko

Nur heiße Luft?

Analyse

Trotz neuer Verfassung und neuer Regierung stockt der Reformprozess in Marokko. Gleichzeitig ist es um die Protestbewegung ruhig geworden. Die Spuren des vergangenen Jahres sind jedoch weiterhin sichtbar, wenn man genau hinsieht.

Rund ein Jahr ist nun vergangen, seit im Königreich Marokko eine neue »königliche« Verfassung qua Referendum in Kraft getreten ist. Reformen hatte König Mohammed VI. als Reaktion auf den auch in Marokko aufkeimenden Protest während des Arabischen Frühlings innerhalb kürzester Zeit angekündigt und erste Schritte zu deren Umsetzung ergriffen.

 

Dazu zählen die Abhaltung von Parlamentswahlen und die Bildung einer neuen Regierung mit einem Regierungspräsidenten an der Spitze, der über weitreichendere Kompetenzen verfügen soll, als dies bislang der Fall gewesen ist. Im November 2011 ging bei vorgezogenen Parlamentswahlen schließlich zum ersten Mal die moderat-islamistische »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD) als stärkste Kraft hervor.

 

Aus ihren Reihen wurde Abdelilah Benkirane vom König zum Regierungspräsidenten ernannt und mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Doch viel weiter reicht der Reformprozess nicht. Die in der Rede König Mohammed VI. vom 9. März 2011 und in der Verfassung angekündigte Gewaltenteilung wurde nicht umgesetzt. Zudem obliegen alle wichtigen Entscheidungen nach wie vor dem Monarchen.

 

Dies führte in den vergangenen Monaten immer wieder zu Spannungen und Unmut vor allem um die Person des Regierungspräsidenten Benkirane. Für viele Marokkaner bleibt unklar, ob die Entscheidungsprozesse nun hinter den Kulissen anders verlaufen als vor der Verfassungsreform und welche Rolle der Regierungspräsident in diesen spielt.

 

Klar ist, dass seine Macht sehr begrenzt ist und König und »Makhzen«, der Hofstaat des Königs, nach wie vor die Zügel fest in der Hand halten. Dennoch gerät Benkirane immer wieder unter Beschuss und wird insbesondere auch für seine mangelnde Durchsetzungsfähigkeit im Kampf gegen Korruption und seine mangelnde Kommunikationsfähigkeit kritisiert.

 

Zuletzt kam er Anfang August in ernsthafte Schwierigkeiten, als die Zeitung Assabah in einem Artikel am 9. August behauptete, Benkirane habe gesagt, zwischen ihm und der königlichen Entourage gäbe es keine Kommunikation. Der Regierungspräsident beeilte sich daraufhin, dem König seine Loyalität zu versichern und sich für diese »Verleumdungen und Falschaussagen« zu entschuldigen.

 

Gravierende Defizite bei Bildung und Gesundheit

 

Diese Vorfälle veranschaulichen das Dilemma des Regierungspräsidenten sehr deutlich: Der Spagat zwischen den Interessen der marokkanischen Bevölkerung beziehungsweise denen der PJD sowie denen des Königs und seiner Vertrauten. Ferdinand Eibl vom Hamburger »German Institute of Global and Area Studies« (GIGA) formuliert diese Herausforderungen noch etwas allgemeiner und auf die PJD insgesamt bezogen.

Demnach seien zwei Szenarien denkbar, die Integration in »den vom König gesteuerten Kooptationszyklus um Ämter und Posten« oder die Nutzung des »kleinen Opportunitätsfensters, welches sich durch die Verfassungsreform eröffnet hat, für den Ausbau des eigenen Gestaltungsspielraums«. Bislang scheint es, als ob in dieser Hinsicht noch keine klare Positionierung stattgefunden hat.

 

Doch auch auf Seiten des Königshauses und des Makhzens kann man die Auswirkungen der vergangenen angespannten Monate ausmachen. In seiner Rede an die Nation am 30. Juli anlässlich des Thronfestes äußerte sich der König deutlich detaillierter als noch im März 2011 über die Reformen und notwendigen, zukünftigen Schritte und betonte insbesondere sozio-ökonomische Aspekte, bilaterale Beziehungen sowie die politische Einbindung von Frauen und Jugend. Positiv kann eine erste Zwischenbilanz über die Implementierung der angestrebten Reformen jedoch nur schwer ausfallen.

 

Die großen Herausforderungen wurden nach dem anfänglichen Schwung des Frühlings 2011 nur bedingt und sehr langsam in Angriff genommen. Weder die Bekämpfung von Korruption und Armut, noch die Stärkung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes wurden erreicht. Auch im Bereich Gesundheit und Bildung sieht es nicht besser aus, Verbesserungen und grundlegende Veränderungen sind längst überfällig und dringend notwendig.

 

Gerade die Defizite im Bildungssystem provozierten in den vergangenen Wochen vermehrt Proteste von Schulabgängern und Studenten, die gegen das ungerechte System und die schlechte Qualität der Bildung sowie gegen geplante Studiengebühren auf die Straße gingen. Da verwundert es nicht, dass König Mohammed VI. dieses Jahr zum ersten Mal darauf verzichtete, seinen Ministern und anderen offiziellen Vertretern in einer traditionellen Zeremonie den Treueeid (bayaa) abzunehmen.

 

Die politischen Entwicklungen im Land werden beobachtet, diskutiert und kommentiert

 

Auch wenn die durch das Königshaus initiierten Reformen die Proteste im Königreich Marokko kurzfristig eindämmen und ihnen den Wind aus den Segeln nehmen konnten, so können die sozio-ökonomischen Missstände und der fehlende politische Wandel mittel- bis langfristig Konflikte und erneute Proteste nicht aufhalten.

 

Die Protestbewegung mag stark geschwächt sein, die marokkanische Bevölkerung jedoch scheut sich nicht davor, die Verfehlungen der Regierung und mangelnde Reformen zu thematisieren. Ein grundlegender politischer Wandel in Richtung Demokratisierung hat sich auch in Marokko nicht vollzogen. Was sich jedoch verändert hat, sind die Möglichkeiten der politischen Partizipation und Diskussion.

 

Die politischen Entwicklungen im Land werden beobachtet, diskutiert und kommentiert – und dies nicht nur auf der Straße, in den Medien oder im Internet sondern auch in Organisationen, auf Konferenzen und in Foren wie dem Café Politis. Dort kommen junge und ältere Menschen zusammen und diskutieren relevante politische und soziale Themen, Gäste sind dabei unter anderem auch Minister oder Mitglieder der »Bewegung des 20. Februar«.

 

Von einigen Marokkanern wird dies bereits als eine Errungenschaft und die Verfassungsreform als ein Schritt gesehen, auf den nun konkrete Taten folgen müssen. Andere wiederum fordern weitreichendere Reformen, die ebenfalls das politische System betreffen und fassen die aktuellen Entwicklungen als reine Maskerade auf.

 

Bewegungen wie die ägyptische Jugendbewegung »6. April« werden tendenziell jedoch kritisch betrachtet, da sie Kritik äußern, gleichzeitig jedoch keine konstruktiven Vorschläge unterbreiten und so mehr eine Gefahr als ein Potential darstellen und nicht als Vorbild für die marokkanische Situation herangezogen werden sollten.

 

Eine kontroverse Auseinandersetzung mit dem so genannten Arabischen Frühling findet in den königstreuen Kreisen überwiegend dahingehend statt, dass politischer Wandel von innen heraus geschehen muss und nicht gegen sondern mit dem König – unter Teilhabe der Gesellschaft und vor allem der Jugend.

Von: 
Nadine Kreitmeyr

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