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Protestbewegung »20. Februar« und König Mohammed VI. in Marokko

Zugeständnisse eines Unantastbaren

Analyse

Auch drei Jahre nach Beginn der Protestbewegung »20. Februar« behält König Mohammed VI. die Zügel der Macht in Marokko fest in den Händen und umgeht dabei islamistische und säkulare Strömungen. Ein Erfolgsrezept?

Zwei Jahre ist es nun her, dass der marokkanische Monarch Mohammed VI. die Zeichen der Zeit richtig erkannte. Den damaligen Protesten seiner Bevölkerung nahm der 49-Jährige geschickt den Wind aus den Segeln. Verfassungsrechtliche Zugeständnisse bewahrten seine alawidische Dynastie vor dem Schicksal der Herrschenden in Tunesien, Libyen, Ägypten und Jemen. Auch vermied er einen lang anhaltenden und grausamen Bürgerkrieg wie in Syrien oder dem Irak.

 

Doch dann gingen im August 2013 erneut Zehntausende auf die Straße: Sie demonstrierten gegen die Freilassung eines spanischen Pädophilen. Im Zuge einer Amnestie aus Anlass des Jahrestags seiner Thronbesteigung hatte der Monarch 1.044 Gefangene begnadigt. Unter ihnen befand sich, auf Bitte von König Juan Carlos, auch der zu 30 Jahren Haft verurteilte Spanier Daniel Galván.

 

Eine Welle des Protests durchzog erneut das nordafrikanische Land – und der König reagierte: Nach dem anfänglichen Versuch, die Demonstrationen mittels Polizeigewalt unter Kontrolle zu bringen, sah Mohammed VI. seinen Irrtum ein und zog die Begnadigung Galváns zurück. Im selben Zuge musste Marokkos oberster Gefängnisverwalter seinen Hut nehmen. Wieder einmal hatte das Königshaus seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, auf Strömungen innerhalb der Gesellschaft zu reagieren.

 

Dennoch: Das Regieren hatte sich Mohammed VI. 1999 bei der Thronbesteigung als Nachfolger seines Vaters Hassan II. wohl leichter vorgestellt. Bereits seit Mitte des 17. Jahrhunderts regiert seine Familie aus der Dynastie der Alawiden – nicht zu verwechseln mit den Alawiten in Syrien oder den Alewiten in der Türkei – das Land im Nordwesten Afrikas. »Alawi« bedeutet Nachkomme Alis.

 

Aufgrund der Abstammung vom Cousin des Propheten Muhammad verfügt die Familie  von »M6«, wie Mohammed VI. in den Medien meist abgekürzt wird, über eine religiös fundierte Autorität. Der König trägt als oberster Muslim des Landes den Titel »Beherrscher der Gläubigen«. Da der Islam per Verfassung Staatsreligion ist, besteht eine enge, quasisakrale Verbindung zwischen Monarch und Untertanen.

 

Die Demokratiebewegung »20. Februar« gewann an Einfluss und forderte einschneidende Veränderungen

 

Politisch musste sich die Dynastie ihre Position hart erarbeiten. Nach langen Kämpfen gegen marokkanische Clans und die französischen Kolonialherren erlangte das Land an der Straße von Gibraltar 1956 seine Unabhängigkeit. Die Herrschaft mit der Bevölkerung zu teilen, war jedoch nicht geplant. Doch mit dem vor nunmehr drei Jahren ausgebrochenen Arabischen Frühling kam Bewegung in die altmodischen und verkrusteten Machtgefüge – auch in Marokko.

 

Am 20. Februar 2011 begannen die ersten Proteste in dem maghrebinischen Staat. Der durch eine Facebook-Gruppe initiierte »Tag des Stolzes« lockte zwar lediglich rund 2.000 Menschen in Rabat auf die Straßen und gut 1.000 in Casablanca, doch ein Zeichen war gesetzt. Die Demokratiebewegung »20. Februar« gewann an Einfluss und forderte einschneidende Veränderungen. »M6« reagierte bereits damals schnell und geschickt: Er modifizierte Mitte 2011 die Verfassung und stärkte die Demokratie – zumindest ein wenig.

 

Bis zu diesem Zeitpunkt war der 1963 geborene König geistliches Oberhaupt aller Marokkaner, Oberbefehlshaber des Heeres und Chef des obersten Rechtsorgans – des Hohen  Rates der Justiz – in einem. Zudem lag die Regierungsbildung allein in seiner Hand. 98 Prozent der 32 Millionen Marokkaner sowie die wichtigsten Parteien, Gewerkschaften und religiösen Führer begrüßten in einem Referendum am 1. Juli 2011 den Verfassungsentwurf, demzufolge Ministerpräsident und Parlament an Macht gewannen.

 

Seither wählen die Volksvertreter den Regierungschef. Dieser bestimmt nun die Mitglieder seines Kabinetts, ernennt die Botschafter und Provinzgouverneure. Allerdings räumt die neue Verfassung dem König eine Art Vetorecht ein. Ihm obliegt es, allen Personalvorschlägen zuzustimmen. Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie der Schutz der Menschenrechte fanden ebenfalls Eingang in das neue Grundgesetz.

 

Um diesen mehr Nachdruck zu verleihen, richtete der Palast die Institution des Menschenrechtsrates ein. Ferner erkannte er die Berbersprache Tamazight als Amtssprache an. Der Lackmustest für die Reformbemühungen erfolgte am 25. November 2011. Mehr als 13 Millionen Stimmberechtigte votierten in vorgezogenen Parlamentswahlen für ihre Volksvertreter. Die gemäßigt islamistische »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD) trug den Sieg davon.

 

Da die PJD mit 107 von 395 Sitzen seither die stärkste Kraft ist, ernannte »M6« ihren Generalsekretär, Abdelilah Benkirane, zum neuen Regierungschef. Der 60-Jährige ist der erste islamistische Ministerpräsident in Marokkos Geschichte. Er regiert in einer Koalition mit drei anderen Gruppierungen.

 

Mohammed VI. bleibt auch nach der Verfassungsreform das politische Schwergewicht

 

War das die von der Opposition lang erhoffte Wachablösung? Das Königshaus schien geschwächt. Darüber hinaus hatten die königstreuen Parteien in den Wahlen Federn gelassen. So errang die nationalistische Istiqlal-Partei von Ex-Ministerpräsident Abbas al-Fassi lediglich 60 Mandate. Nach jahrzehntelanger Regierungsverantwortung blieb für sie im neuen Kabinett nur noch die Rolle als Juniorpartner. Die außerparlamentarische Opposition des »20. Februar« hingegen hatte zum Wahlboykott aufgerufen. 55 Prozent Nichtwähler sind sicherlich auch als Erfolg ihres Aufrufs anzusehen.

 

Doch neben politischen Zugeständnissen ist die Bevölkerung vor allem an der Lösung sozialer Fragen interessiert. Gut ein Drittel der Jugendlichen ist ohne Beschäftigung und fast ein Viertel der 32 Millionen Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Wirtschaftswachstum und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stehen für die Bevölkerungsmehrheit absolut im Vordergrund. Der Regierungskoalition ist es bislang nicht gelungen, den angekündigten Ausbau des sozialen Netzes schnell voranzutreiben. Das rief zunehmend Unmut in den ärmeren Bevölkerungsschichten hervor, der im vergangenen Winter erneut zu Protesten führte. Der Regierungsaustritt der Istiqlal im Juni 2013 schwächte Premier Benkirane zusätzlich.

 

Die Hoffnungen der Marokkaner ruhen daher auf dem Königshaus. Mohammed VI. bleibt auch nach der Verfassungsreform das politische Schwergewicht. Zwar ist der Monarch nicht mehr von Gesetzes wegen »sakrosankt«, doch bleibt er weiter »unantastbar« – nur die heilige Aura des Begriffs ist verschwunden. Im Grunde bevorzugt die Bevölkerung aber auch weiterhin den alawidischen Alleinherrscher. Politiker, Parteien und Verwaltung hingegen gelten vielen als korrupt und habgierig.

 

Die Demonstrationen im August 2013 richteten sich daher auch nicht direkt gegen den Palast. Wohl aber wurden sie als Ventil für eine generelle Unzufriedenheit mit der Cliquenwirtschaft und Korruption genutzt.

 

Mehrere hundert Personen gingen auch für die Freilassung inhaftierter Oppositioneller der Bewegung vom »20. Februar« auf die Straße; und Proteste richteten sich auch gegen die alljährlichen so genannten »Loyalitätsrituale«, bei denen vor allem Staatsdiener öffentlich vor dem Palast in Rabat ihre Ergebenheit gegenüber dem Monarchen bekunden – eine staatlich organisierte Machtdemonstration. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich in diesem Jahr selbst führende Repräsentanten der Regierungspartei PJD unter den »Loyalitätsbekundern« befanden.

 

Trotz der leichten Machtverschiebung kann von einer Islamisierung der Gesellschaft in Marokko nicht die Rede sein

 

Trotz der leichten Machtverschiebung kann von einer Islamisierung der Gesellschaft in Marokko nicht die Rede sein. Im September 2012 widersetzte sich das Königshaus dem Wunsch der PJD, das Fernsehen zu islamisieren. Der Kommunikationsminister hatte vorgeschlagen, in staatlichen Radio- und Fernsehstationen fünfmal am Tag zum Gebet aufzurufen, die französischsprachigen Sendungen zu verringern und Werbung für Wetten und Spiele zu unterbinden.

 

Die Fatwa des Hohen Rats der Religionsgelehrten vom April 2013, welche das Lossagen vom islamischen Glauben unter Todesstrafe stellt, keinen rechtsverbindlichen Charakter. Der Wunsch der Religionsgelehrten besitzt für den König nur beratende Funktion. Darüber hinaus verhinderte im Dezember 2013 die Opposition erfolgreich den Haushaltsentwurf der regierenden PJD im Senat – eine der beiden Kammern. Viele betrachten diese Abstimmung als allgemeine Kritik an der Regierungsarbeit, die viele Versprechen unerfüllt ließ.

 

Auch wenn die »sanfte Revolution« eine moderate Demokratisierung und Machtverteilung bedeutet, hat der 49-jährige Monarch also nach wie vor das letzte Wort. Der in Frankreich promovierte »M6« verfolgt eine machtpolitische Transformation und gesellschaftspolitische Erneuerung von oben. So versucht Mohammed VI. geschickt, die vorhandenen gesellschaftlichen Spannungen zu neutralisieren, um letztendlich die Privilegien der eigenen Dynastie nicht zu gefährden und als Pfründe für die Zukunft zu sichern. Das Eingeständnis seines Irrtums bei der Freilassung des pädophilen Verbrechers Galván war ein bekräftigender Beweis seiner »Realpolitik«.


Heino Matzken hat an der Universität der Bundeswehr München und an der Staffordshire University Informatik studiert, zudem besitzt er einen PhD in International Relations der Bircham International University.

Von: 
Heino Matzken

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