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Politische Spaltung Ägyptens

Kooperation statt Ideologie

Analyse

Ein Grund für die politische Spaltung Ägyptens ist die Machterhaltungsstrategie des alten Regimes. Dabei müsste spätestens seit der Revolution klar sein, wie wichtig ideologieübergreifende Kooperation für die Zukunft des Landes ist.

Nach der Verabschiedung der umstrittenen neuen ägyptischen Verfassung rief Präsident Muhammad Mursi Ende Dezember alle politischen Parteien zu einem »Nationalen Dialog« auf, um die andauernden Auseinandersetzungen zwischen den regierenden Muslimbrüdern und der Opposition zu lösen. Nur wenig später wurde gegen Mohamed El Baradei, den Führer der oppositionsübergreifenden »Nationalen Heilsfront«, ein Verfahren wegen Volksverhetzung eröffnet.

 

Eine vertrauenerweckende und ernsthafte Einladung für den in der Tat so dringend gebrauchten ideologieübergreifenden Austausch sieht anders aus. Überhaupt weckt Mursis Vorstoß düstere Assoziationen mit den Praktiken des vorrevolutionären autoritären Regimes. Dieses beschwor zu jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig den nationalen Zusammenhalt, während es im Hintergrund die politische Opposition gegeneinander ausgespielte, um den eigenen Machterhalt zu garantieren.

 

Deshalb förderte Präsident Anwar Al-Sadat dann auch lieber Partikularinteressen anstatt Dialog und Kooperation, sodass innerhalb der damaligen Opposition Konfliktlinien entstanden, die noch die heutigen Auseinandersetzungen maßgeblich prägen. Wie diese zu überwinden sind, sollte die politische Elite des Landes eigentlich längst besser wissen. Schließlich war der konstruktive, wenngleich meist eigennützige, Annäherungsprozess der linken und liberalen Kräfte des Landes mit den Islamisten nach Beginn der Zweiten Palästinensischen Intifada im Jahr 2000 eine der wesentlichsten Erfolgsbedingungen der Januar-Revolution.

 

Im Kampf um die Zukunft des Landes scheint dies völlig vergessen. Dabei lohnt sich der Blick in die Vergangenheit, um die aktuelle Krise zu meistern.

 

Wie die legale Opposition das Regime legitimierte

 

Nach dem Scheitern des populistischen Projekts von Gamal Abdul Nasser füllte sein Nachfolger Sadat die entstandene ideologische Leere, indem er unter anderem ein Mehrparteiensystem etablierte, das dem Anschein nach politische Partizipation in legalen Oppositionsparteien erlaubte. Deren Handlungsrahmen gesetzlicher und finanzieller Art wurde jedoch derart beschränkt, dass im personalisierten und korrupten Herrschaftssystem Ägyptens ein harter oppositionsinterner Kampf um Einfluss und Ressourcen ausbrach.

 

Dieser wurde um relative Vorteile innerhalb einer scheinbar unumstößlichen Ordnung geführt, ohne dass tatsächliche Einflussmöglichkeiten existiert hätten. Hinzu kam, dass die Parteien an internen Querelen litten, die auf ihre paternalistische Führung – meist selbst ehemalige Regimemitglieder – zurückzuführen sind. Die Opposition blieb somit schwach und zerstritten, während sie das Regime nach außen und innen legitimierte.

 

Die gewünschte und zunehmende Fragmentierung der Opposition erlaubte es diesem weiterhin, gesellschaftliche Interessen und Widerstand leichter zu kanalisieren und zu unterdrücken. Dies gilt besonders auch für die Präsidentschaft von Hosni Mubarak, unter der die Zahl der legalen Oppositionsparteien von 6 auf 26 stieg. Damit wuchs der Wettkampf um die ohnehin schmale Unterstützerbasis dieser Parteien weiter.

 

Teile und Herrsche – Ein gefährliches Spiel

 

Derselben Strategie folgend förderte Sadat auch innerhalb der extra-legalen Opposition die Konkurrenz. Dazu stärkte er die fast zerschlagene Muslimbruderschaft geschickt gegen die in den 1970er Jahren noch dominanten linken Kräfte. So ließ er etwa vormalig inhaftierte Muslimbrüder aus dem Gefängnis frei und lud Exil-Aktivisten der Bewegung zurück nach Ägypten ein. Der Muslimbruderschaft wurde die Etablierung von wohltätigen Organisationen, privater Moscheen sowie die Herausgabe von Zeitschriften erlaubt.

 

So erlangte sie in kürzester Zeit wieder großen gesellschaftlichen Einfluss. Sadats Politik des Teilens und Herrschens und die dadurch angestiftete Feindschaft zwischen Muslimbruderschaft und säkularen Linken sowie Liberalen, darunter die Tagammu-Partei, die Kommunisten, die Revolutionären Sozialisten und die Nasseristen, lässt sich gut an mehreren historischen Beispielen festmachen: 1977 brachen in Ägypten die Brotunruhen in Reaktion auf die Senkung der Subvention für Grundgüter aus.

 

Das Sadat-Regime beschuldigte linke Kräfte, Proteste und Unruhen angestiftet zu haben und verhaftete hunderte von Aktivisten. Der Präsident erfuhr dabei die Unterstützung der Islamisten inklusive der Muslimbruderschaft, die in der Folge weiter vom Regime gestärkt wurde. Sein gefährliches Spiel musste er jedoch schließlich mit dem Leben zahlen: Im Jahr 1981 wurde er durch die militante Splittergruppe der Muslimbruderschaft »al-Dschihad« ermordet.

 

Sein Nachfolger Mubarak sah sich zu harschen Konsequenzen genötigt, um dem radikalen politischen Islam Herr zu werden. Anfang der 1990er Jahre führte das Regime daher eine äußerst gewalttätige Auseinandersetzung mit »al-Dschihad« und der ebenfalls militanten Gruppe »al-Jama'a al-Islamiya«, die in der von Sadat stark gemachten islamistischen Studentenbewegung wurzelte.

 

Die Muslimbruderschaft wurde im Zuge dieser Konfrontation ebenfalls verstärkt unterdrückt, da sie sich nicht nur ambivalent zu den militanten Gruppen positionierte, sondern nun auch als ernsthafte Gefahr für das Regime wahrgenommen wurde. Dieses allgemeine Vorgehen gegen den politischen Islam hatte jedoch weder eine Welle der Solidarität durch andere Oppositionskräfte zur Folge, noch verhalf sie den stark fragmentierten linken Kräfte des Landes zu mehr Einigkeit.

 

Diese hatten sich ohnehin schon über ihr Verhalten gegenüber dem Islam sowie über verschiedene Meinungen zum Friedensprozess mit Israel zerstritten. Folglich beschlossen vor allem die Marxisten, dass eine Angleichung an die Linie des Regimes in Bezug auf dessen Krieg gegen den islamistischen Terror der politischen und sozialen Stabilität des Landes am zuträglichsten sei. Positive Resonanz durch Teile der linken Kräfte erfuhr Mubarak ebenfalls, als er 1993 gegen den gewachsenen islamistischen Einfluss in den Berufsvereinigungen vorging.

 

Mehr Kooperation ebnete den Weg zur Revolution

 

Andererseits verteidigten einige marxistische Anwälte Islamisten gegen die Menschenrechtsverletzungen des Regimes, während vor allem Nasseristen Ägypten durch die USA und Israel bedroht sahen und daher für mehr oppositionelle Kooperation gegen die wahrgenommene externe Gefahr plädierten. In diesem Klima begannen erste Austauschbemühungen zwischen linken Kräften und Islamisten während der 1990er Jahre.

 

Den Kontext dafür boten sowohl unabhängig und vom Regime organisierte Dialoge, die zwischen Islamisten, der Regierung und linken Kräften stattfanden und primär das Ziel hatten, den islamistischen Terror zu beenden. Sie führten zwar zu keinem wirklichen Ergebnis, machten jedoch klar, dass wechselseitiges Misstrauen schlussendlich lediglich dem Regime zugute kommt. Gleichzeitig gab es sowohl innerhalb der Linken als auch innerhalb der Muslimbruderschaft Abgrenzungsversuche einer jüngeren Generation, die von der paternalistischen Organisationsführung frustriert war und zu neuen politischen Ufern aufbrach.

 

So ist die Entstehung der 1996 von Abu Elala Madi gegründeten, moderat-islamistischen Al-Wasat-Partei zu verstehen. Weiterhin trennte sich die nasseristische Al-Karama-Partei von der Arabisch-Demokratischen-Nasseristischen-Partei ab. Beide neue Gruppierungen wurden nie offiziell anerkannt, waren aber von Bedeutung, weil sie für ideologieübergreifenden Dialog offen waren. Diese Entwicklungen bildeten die Grundlage für die Intensivierung unterschiedlicher Kooperationsformen, namentlich Wahlkoalitionen, Komitees und themenbezogene Bewegungen.

 

Erstere hatten sich bereits während der 1980er Jahre in kleinem Umfang und stets unter taktischen Gesichtspunkten formiert. Komitees und themenbezogene Bewegungen waren als Wegbereiter für die Revolution deutlich relevanter und auch schon in den 1970ern und 1980en erprobt worden. Sie waren vor der starken Fragmentierung der Oppositionslandschaft in den 1990er Jahren eigentlich recht inklusiv und konnten sogar vereinzelt Einfluss auf die Entscheidungen des Regimes nehmen, doch hatten eine entscheidende Schwäche:

 

Sie scheiterten daran, dass ihre Mitglieder sich in erster Linie als Repräsentanten ihrer jeweiligen Parteien und Organisationen verstanden und somit lediglich den oppositionsinternen Zwist in ein anderes Forum verlagert hatten. Dies änderte sich erstmals im Rahmen der Zweiten Palästinensischen Intifada im Jahr 2000 und während des Irakkriegs drei Jahre später, die ein breites Aktivistenfeld sensibilisierten und einen Rahmen schufen, der es erlaubte, das Regime grundsätzlich zu kritisieren.

 

So entstand das »Ägyptische Volkskomitee zur Unterstützung der Palästinensischen Intifada« (EPCSPI), das allen Aktivisten offen stand und auch für ein breites ideologisches Spektrum attraktiv war, da es auf einer vagen nationalistischen Agenda fußte. Im Rahmen der Komiteearbeit entstand ein informelles Aktivistennetzwerk, das erlaubte, auf den nun vorhandenen Erfahrungen aufzubauen und den Brückenschlag von der Außen- zur Innenpolitik zu wagen.

 

Die alten Bruchlinien überdauern

 

So gründeten einige Kernpersonen des Volkskomitees die »Ägyptische Bewegung für Wandel«, die mit ihrem Schlagwort »Kefaya – Genug!« für Furore sorgte und sich mit Straßenprotesten explizit gegen das Regime wandte. Kefaya setzte sich aus Mitgliedern aller wichtigen Oppositionsparteien und ideologischen Strömungen zusammen, ohne dass die jeweiligen Aktivisten diese unter dem Schirm von Kefaya vertraten.

 

Die Führer der Bewegung waren weiterhin die Initiatoren der »Nationalen Front für Wandel«, eine Wahlkoalition zur Präsidentschaftswahl von 2005, die elf Parteien und Gruppierungen unterschiedlichster Ausrichtung umfasste (Liberale, Nasseristen, Linke, Islamisten, Arbeiter) und sich in manchen Wahlbezirken mit der Muslimbruderschaft koordinierte. Natürlich war auch Kefaya nicht vor internen Querelen gefeit.

 

Nach der enttäuschenden Wahl von 2005 und mit zunehmenden Repressionen verlor die Bewegung an Elan. Jedoch hatte sie gezeigt, dass ideologieübergreifende Kooperation bei gleichzeitiger Einigung auf gemeinsame Nenner das Regime nervös machen konnten. Kefayas Organisations-, Protest- und Kommunikationsmodell diente weiteren Bewegungen – darunter die Jugendbewegung des 6. Aprils, den Initiatoren der Facebook-Gruppe »Wir sind alle Khaled Said« sowie die Unterstützer von Mohamed El Baradei – als Vorbild für ihre letztlich erfolgreichen Mobilisierungsbemühungen, an deren Ende die Massenrevolte vom 25. Januar 2011 stand.

 

Vor allem die Phase nach 2010 ist von verstärktem Austausch und gemeinsamen Aktivismus gegen das Regime geprägt. Es dominierte der Wunsch nach Veränderung, ganz unabhängig von der ideologischen Strömung, sodass die Mitglieder der genannten Bewegungen als Individuen mit gemeinsamen Interessen und nicht als Vertreter einer Ideologie erfolgreich zusammenarbeiteten.

 

Die Muslimbrüder können es sich schlicht erlauben, auf Zeit zu spielen und zu taktieren

 

Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die alten Bruchlinien trotzdem bis heute erhalten blieben. Die Unterstützung des Volkskomitees durch die Muslimbruderschaft ab dem Jahr 2000 muss vor allem als symbolischer Akt und taktisches Kalkül verstanden werden. Durch Kefeya fühlten sich die etablierten Oppositionsparteien und die Muslimbruderschaft im Jahr 2004 herausgefordert, so dass sie parallel und ohne Absprache gegen das Regime aktiv wurden.

 

Dies verspielte letztlich die Bildung einer nachhaltigen Allianz und verschob die Entstehung einer breiten Massenmobilisierung um einige Jahre. Die Jugendbewegung des 6. April, die für ihre maßgebliche Beteiligung an der Organisation der Proteste vom 25. Januar für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, wäre im Jahr 2009 fast an internen Querelen mit einer islamistischen Mitgliedergruppierung gescheitert.

 

Dieser Zwist führte nur nicht zur völligen Bedeutungslosigkeit der Bewegung, weil ihr Koordinator Ahmed Maher gegen allen Widerstand lange an einem hierarchischen Organisationsmodell festhielt. Zuletzt darf nicht vergessen werden, dass die Muslimbruderschaft keinen wirklichen Anteil an der Mobilisierung zu den Massenprotesten des 25. Januars 2011 hatte, sondern erst nach einigen Tagen ihr ganzes Gewicht hinter die Ägyptische Revolution warf.

 

Die Bruderschaft kann es sich schlicht erlauben, auf Zeit zu spielen und zu taktieren, was sie auch unter der Herrschaft des Militärrats bewiesen hat. Inwiefern hilft nun der Blick in die Vergangenheit in der aktuellen Krise? Zunächst einmal bleibt bei allem Optimismus festzustellen, dass Partikularinteressen noch immer die Handlungsraison der allermeisten organisierten politischen Gruppierungen dominieren, ohne dass diese durch funktionierende Gewaltenteilungen in Zaum gehalten würden.

 

Die politische Führung des Landes sollte aber mittlerweile wissen, dass das Festhalten an Eigennutz und ideologischen Dogmen das Mubarak-Regime einige Jahre zu viel hat überleben lassen. Der Erfolg der Revolution bestand darin, dass sie weitestgehend ideologiefrei war. Da nun der kleinste gemeinsame Nenner, der Sturz Mubaraks und des Militärs, fehlt, ist es umso wichtiger, ideologische Barrieren und Ängste zu überwinden und schließlich politische Spielregeln zu schaffen, die exzessive Machtkonzentration und Willkürherrschaft verhindern. Nur so gibt es eine Aussicht auf sozialen Frieden in Ägypten.

Von: 
Christoph Sanders

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