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Politische Lösung im Syrien-Konflikt

Der Westen hat jetzt keine Ausreden mehr

Essay

Wer in Syrien eine politische Lösung will, muss auch bereit sein, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Kann man die Seiten nicht an den Verhandlungstisch bomben? Nein, aber man kann Bombardements relativ leicht verhindern.

Lakhdar Brahimi war der festen Meinung, eine Lösung in Syrien führe über einen direkten Dialog zwischen Regime und Opposition. Der Sondergesandte der Vereinten Nationen – ansonsten ein Mann mit dem Talent, Erwartungen möglichst tief zu hängen – warf schließlich frustriert das Handtuch. Man kann sagen, dass dieser falsche Glaube an Verhandlungen dem syrischen Volk ein weiteres Jahr Blut und Leid bescherte. Und es stellt sich die Frage: Kann man eine politische Lösung überhaupt über direkten Dialog erzielen? Und warum endeten die Genfer Friedensgespräche in einer Sackgasse?

 

Dieser Konflikt wird von sich bekämpfenden Parteien bestimmt, für die keine Koexistenz möglich scheint. Jede Seite versucht, die andere zu eliminieren. Aus diesem Grunde erscheint die Idee, beide Seiten an einen Tisch zu bringen, von vornherein nicht gerade sinnvoll. Vor Wochen lud der Ex-Präsident der Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, Moaz al-Khatib, zwar erneut das Assad-Regime zum Dialog ein. Verhandlungen setzen jedoch voraus, dass beide Seiten so etwas wie gemeinsame Interessen haben, nachdem Missverständnisse oder verhärtete Positionen zu einer Eskalation führten.

 

Verhandlungen als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

 

Verhandlungen stellen ein Steuerungsinstrument dar, um eine Situation zwischen zwei konkurrierenden, verfeindeten Seiten zu verwalten. So wie Clausewitz vom Krieg als Mittel der Durchsetzung von Politik schreibt, so sind Verhandlungen letztendlich auch eine Fortsetzung des Krieges – mit anderen, eben politischen Mitteln.
 
 
Verhandlungen dienen nicht nur dem Frieden, sondern haben für Kriegsparteien auch einen taktischen Zweck: Man kann dabei Erkenntnisse über die tatsächliche Macht des Gegners gewinnen und ausloten, wie weit der andere bereit ist zu gehen. Um welchen Preis er aufgeben würde. Auf diesem Weg kann man aber einen Vernichtungskrieg, bei dem es um »alles oder nichts« geht, beenden. Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass man den Konflikt nicht mit einem endgültigen Kraftakt lösen kann, was jedoch Zugeständnisse von beiden Seiten erfordert.
 
 
Vermittler versagen, wenn sie Interessen und Befürchtungen der Konfliktseiten sowie die Wurzeln des Konflikts nicht identifizieren können. Oftmals wissen sie nicht wirklich, welche möglichen Lösungen am Ende der Gespräche stehen. Wer aber annimmt, dass Vermittler in einem so existenziellen Konflikt wie dem syrischen nur mit gutem Willen, neutraler Haltung und ohne Druckmittel auftreten können, der irrt sich gewaltig. 
 

Der 30-Jährige Krieg fing auch einmal als »böhmischer Konflikt« an. Irgendwann war ganz Europa involviert

 

Niemand sollte glauben, dass die USA oder Russland von den Ergebnissen der Genfer Gespräche überrascht wurden. Denn sie wissen wohl um die Besonderheit dieses Konflikts und darum, dass ein gemeinsamer Nenner zwischen Regime und Opposition fehlte. Auch wussten die Großmächte, dass die Personen am Verhandlungstisch weder Befugnisse noch die Macht hatten, Entscheidungen zu fällen. Demnach sind sie auch nicht in der Lage, Kompromisse zu schließen oder Gesamtlösungen zu finden.  
 
 
Die europäische Geschichte lehrt uns diesbezüglich eine ganze Menge: etwa wie Ferdinand II. vergebens versuchte, seinen zehnjährigen Konflikt gegen die Böhmen zu beenden. Darauf folgten noch einmal 20 Jahre Krieg – zum Schluss ein europaweiter, in den Frankreich, Schweden, Dänemark und Spanien involviert waren und dessen Verlauf diese externen Mächte maßgeblich beeinflusst hatten.
 
 
Eine stabile Lösung konnte erst erzielt werden, als Vertreter aller Konfliktparteien an einem gemeinsamen Tisch Platz nahmen. Das Ergebnis war der Westfälische Friede von 1648. Dieses Abkommen orientierte sich nicht nur an der Realität der Machtverhältnisse, sondern zeigte auch, dass seine Autoren die Wurzeln des Dreißigjährigen Krieges verstanden und analysiert hatten.
 

Für Fassbomben auf Zivilisten gibt es keine militärische Begründung

 

Politische »Zauberlösungen« wird in Syrien niemand mehr erreichen. Aus diesem Grunde erscheint es sinnvoll, an Rahmenbedingungen zu arbeiten, die eine politische Lösung zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen, anstatt sich auf eine schnelle Variante zu versteifen. Mit anderen Worten: Wir sind eventuell nicht in der Lage, eine Fortsetzung der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der Opposition zu verhindern, sollten jedoch Anstrengungen unternehmen, diese in den Bereichen der Frontlinien einzuschränken, indem wir das Abwerfen von Fassbomben und Raketen auf die Zivilbevölkerung stoppen.
 
 
Dadurch kann in Teilen Syriens Stabilität einkehren – auch wenn diese nicht jene Form der Stabilität ist, die sich das Assad-Regime wünscht. Die Heimkehr der Vertriebenen würde ermöglicht – damit verbunden ein Wiederaufbau sozialer und wirtschaftlicher Strukturen. Der politische Extremismus verlöre dadurch sämtliche Wachstumschancen. Es wäre die Chance für die Entstehung einer zivilen Führung, die die Opposition ernsthaft und authentisch repräsentiert und in ihrem Namen echte Verhandlungen führen kann. Sollten die »Freunde Syriens« es mit ihrer Freundschaft ernst meinen, so müssten sie diese Rahmenbedingungen herstellen – dann erst kann es Verhandlungen geben.
 
 
Es ist möglich, dass Dialoge und direkte Verhandlungen mit Iran und Russland, den bisherigen Beschützern des Assad-Regimes, ein ähnlich positives Ergebnis erreichen. Falls diese jedoch scheitern, so hätten die »Freunde Syriens« weitere zahlreiche Möglichkeiten, etwa vermittels der Patriot-Raketen im Süden der Türkei. Diese können einen Radius von 30 bis 40 Kilometern des syrischen Grenzgebietes, von Bab Al-Hawa bis zum Grenzübergang Bab Al-Salamah, abdecken – und verhindern, dass Fassbomben und andere Bomben aus der Luft auf die Zivilbevölkerung niedergehen. 
 

Mit technischen Vorbehalten kann sich niemand mehr aus der Verantwortung stehlen

 
Damit könnten sowohl für die Opposition als auch für die Organisationen der Zivilgesellschaft sichere Rückzugsgebiete entstehen. Fabriken und andere Betriebe würden die Arbeit wieder aufnehmen, womit der Wirtschaftskreislauf wieder in Gang käme.
 
 
Die genannte Sicherheitszone wäre der erste Schritt auf einem Weg zur Stabilität, die von Nordsyrien aus ihren Anfang nimmt, was auch die Nachbarn Syriens und die Länder der EU entlasten könnte: Denn die Flüchtlingsströme aus Syrien betreffen alle. Außerdem wäre damit die Erprobung des Aufbaus eines demokratischen Staates möglich, wobei Aktivisten und Politiker wichtige Erfahrungen sammeln könnten.
 
 
Die Fassbomben-Massaker Assads sind der traurige Höhepunkt der gegenwärtigen Tragödie. Man kann mit dem syrischen Regime aushandeln, jene Regionen im Hinterland zu verschonen, zumal sie nicht in der Nähe der Frontlinien liegen. Sollten diese Gespräche erfolglos bleiben, hilft nur das, was im Grunde schon seit Jahren diskutiert wird: eine Flugverbotszone – etwa durch eine direkte militärische Intervention wie nach 1991 im Irak, oder durch die Ausstattung der Opposition mit Flugabwehrwaffen.
 
 
 
Es gibt dabei Dutzende Möglichkeiten, um sicherzustellen, dass diese Waffen nicht in die Hände der ISIS-Extremisten fallen. Etwa durch Fernzündung oder notfalls Deaktivierung und ständige Beobachtung der Waffen über Satelliten.
 
 
Als syrische Rebellen bei Kämpfen um Damaskus rund 20 Jahre alte Flugabwehrwaffen russischer Bauart erbeutet hatten, mussten sie feststellen, dass diese nutzlos waren: Die Regime-Truppen hatten sie per Fernsteuerung deaktiviert. Jeder Hightech-Hersteller in der Industrie kann heute Anlagen mit einem Mausklick abschalten, wenn der Kunde seine Rechnung nicht pünktlich bezahlt. Sollten amerikanische Rüstungsschmieden dazu nicht befähigt sein?
 
 
Die USA haben einige dieser Methoden bereits indirekt in Syrien erprobt,  etwa bei Panzerabwehrwaffen. »Hazem«, ein Zusammenschluss oppositioneller Freischärler hat vor einigen Monaten eine Lieferung amerikanischer Systeme aus Saudi-Arabien erhalten – unter der Bedingung, dass die nächste Lieferung erfolgt, wenn die benutzten Abschussrohre wieder ausgehändigt werden.
 
 
Nach mehr als drei Jahren Krieg ist es nicht mehr akzeptabel, dass westliche Länder, die Verantwortung in der Weltpolitik tragen, die gleichen Ausreden wiederholen, um ihre Nichteinmischung zu rechtfertigen – mit formalen Argumenten oder vermeintlichen technischen Problemen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, um den Weg für eine ernsthafte Lösung zu ebnen. Und zwar für jene politische Lösung, die alle Seiten angeblich so verzweifelt suchen.
Von: 
Ghiath Bilal

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