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Netanjahu und die Offensive in Gaza

»Keine Vision für die Zukunft«

Analyse

Regierungschef Netanjahu wählt die Offensive in Gaza zwei Monate vor der Wahl zu einem sensiblen politischen Zeitpunkt. Durch die Aktion drohen vor allem jene Kräfte in Nahost zu profitieren, die kein Interesse an einem wirklichen Frieden haben.

Ahmad al-Jabari war kein Freund der Diplomatie, die meiste Zeit seines Lebens hat er daran gearbeitet, den militärischen Kampf gegen Israel zu planen. 13 Jahre saß er dafür in israelischen Gefängnissen, wo er auch von der Fatah zum großen Rivalen Hamas wechselte. 2006 war er federführend bei der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit, 2007 einer der Hauptprotagonisten hinter der Machtübernahme der Hamas im Gaza-Streifen und den einhergehenden blutigen Gefechten mit der Fatah.

 

Bis zu seiner gezielten Tötung durch eine israelische Rakete am vergangenen Mittwoch leitete er das Innenministerium der Hamas im Gaza-Streifen. In dieser Funktion legte er jüngst weniger Fokus auf den militärischen Kampf gegen Israel, als auf den Kampf gegen Dissidenten im Gaza-Streifen, die den Machtanspruch der Hamas gefährden könnten.

 

Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Israel soll sich der einstige Hardliner in seiner neuen Machtposition zum Realpolitiker gewandelt haben, welcher in harschen Vergeltungsmaßnahmen der israelischen Armee eine Bedrohung für den Machterhalt der Hamas im Gaza-Streifen erkannte. Etliche Male soll er die Qassam-Brigaden der Hamas und radikalere Fraktionen im Gaza-Streifen in der jüngeren Vergangenheit davon abgehalten haben, Raketen auf Israel zu feuern.

 

Ein strategischer Fehler

 

Aus diesen Gründen hält Friedensaktivist Gershon Baskin, Begründer des »Israel/Palestine Center for Research and Information« mit Kontakten zu Hamas und in ägyptische Sicherheitskreise die gezielte Tötung für einen gravierenden Fehler. Auch wenn er Ahmad al-Jabari für keinen vertrauenswürdigen Partner in einer Friedenslösung hielt, erklärte er den israelischen Militärschlag als »schwerwiegenden strategischen Fehler, der etliche Unschuldige auf beiden Seiten das Leben kosten wird«.

 

Unter israelischen Politikern quer durch das politische Spektrum gab es kaum Kritik an Netanjahus Entscheidung für eine militärische Offensive. Israel ist im Wahlkampf – niemand möchte als Kandidat dastehen, der die Sicherheit des Landes auf die leichte Schulter nimmt. Lediglich bezüglich der Wahl des Zeitpunkts kamen Zweifel auf: So stellte sich Yossi Verter in Haaretz die Frage, weshalb die gezielte Tötung ausgerechnet zwei Monate vor der Knesset-Wahlen am 22. Januar befohlen wurde. »Wir erlebten in diesem Jahr einige Male verstärkte Raketenangriffe aus dem

 

Gaza-Streifen, doch die Reaktion der Regierung war stets zurückhaltend. Eine harte Militäraktion zu einem sensiblen politischen Zeitpunkt wirft die Frage auf: Wieso gerade jetzt?« Verter vermutet, Netanjahu wolle verlorene Wählergunst zurück erlangen. Während der größten Demonstrationen in der Geschichte Israels gingen im Sommer letzten Jahres Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Netanjahu zu demonstrieren. Jetzt wolle er verhindern, dass diese ökonomische Themen den Wahlkampf dominierten, so Verter.

 

Offensive nach innen

 

Auch um die beiden früheren Oppositionspolitiker Tzipi Livni und Ehud Olmert ranken sich in diesen Tage viele Gerüchte. Beide hatten eine Rückkehr in die Politik ins Auge gefasst und gelten als die einzigen Kandidaten, die Regierungschef Netanjahu gefährlich werden könnten. Mit aller Medienaufmerksamkeit auf der Gaza-Krise scheint ihr Comeback jedoch vertagt.

 

Die Militäraktion ist nicht nur als Schlag gegen die Hamas gerichtet, sondern gleichermaßen ein Präventivschlag gegen mögliche Gegenkandidaten, die Netanjahu das ihm unliebsame Thema der Zwei-Staaten-Lösung als Wahlkampfthema aufzwingen könnten. Diesbezüglich ist Benjamin Netanjahu derzeit von zwei Seiten unter Feuer. Einerseits bereitet der Netanjahu-Liebermann Koalition die diplomatischen Initiative der Palästinenser-Regierung in Ramallah Sorgen.

 

Am 29. November soll vor den Vereinten Nationen über den Beobachterstatus Palästinas abgestimmt werden. Es wird erwartet, dass die überwiegende Mehrheit der Staaten für das palästinensische Gesuch stimmen wird. Auch wenn eine solche Aufwertung bei der Weltorganisation weder die Legitimität Israels als Staat noch israelische Menschenleben gefährden würde, schrillten die Alarmglocken der Regierung. So traf Avigdor Liebermann vergangene Woche in Wien alle Botschafter Israels in Europa, um eine konzertierte diplomatische Initiative gegen das Gesuch von Mahmud Abbas zu koordinieren.

 

Viele Israelis sind moderater als Netanjahu

 

Auf der anderen Seite sind im gegenwärtigen israelischen Wahlkampf auch Töne laut geworden, die der aktuellen Regierung eine Blockade der Verhandlungen vorwerfen. Der ehemalige Journalist und Gründer der Partei Yesh Atid (»Es gibt eine Zukunft«) Yair Lapid, erklärte während der ersten öffentlichen Kundgebung: »Netanjahus Behauptung, es gebe keinen Partner im Friedensprozess, ist ein Versuch, der Realität auszuweichen.

 

Das einzige, was diese Politik bewirkt hat, ist die Isolierung Israels in der internationalen Arena und eine Stärkung der Hamas« Er verkündete, keiner Koalition beitreten zu wollen, die Friedensverhandlungen mit der Autonomiebehörde in Ramallah eine Absage erteile. Laut einer Studie des »Walter Lebach Institute for Jewish-Arab Coexistence« der Universität Tel Aviv von Mai 2012 glauben 80 Prozent der Befragten nicht daran, dass Frieden mit den Palästinensern derzeit möglich ist.

 

Davon hält die Hälfte Frieden für völlig unmöglich. Gleichwohl sprechen sich zwei Drittel der Befragten weiterhin für diplomatische Verhandlungen aus und vertreten so eine weitaus moderatere Haltung, als sie ihre Regierung an den Tag legt. Auch Teile des Sicherheitsapparats argumentieren, dass die Zwei-Staaten-Lösung die einzige Garantie für Israels Fortbestand als jüdischer und demokratischer Staat sei. Ein Report des Außenministeriums beklagte die negative Öffentlichkeitswirkung der israelischen Verhandlungstaktik.

 

Demonstrationen in Tel Aviv

 

Aktivisten verschiedener israelischer Friedensgruppen befürchten indes, dass das Vorgehen ihrer Regierung lediglich der Hamas in die Hände spiele. Bereits in dieser Woche demonstrierten vor dem Wohnsitz des Verteidigungsministers Ehud Barak in Tel Aviv wenige Hundert gegen ein militärisches Vorgehen. »Die Eskalation stärkt die Netanjahu-Regierung, genauso wie die Hamas. Keine der beiden sind an einem Ende des Status Quo interessiert«, erklärt eine Demonstrantin in Tel Aviv.

 

Die Hamas, deren Mehrheit Israel das Existenzrecht abspricht, kann so auf das gleiche Narrativ zurückgreifen: »Wir haben keinen Partner, deswegen ist eine Friedenslösung nicht möglich.« Viele Anhänger liberaler Gruppen und Parteien sind frustriert von der Dominanz des rechten Lagers. Doch es gelingt ihnen nicht, einen attraktiven Gegenentwurf zu Netanjahu zu entwickeln. Eine Teilnehmerin der Sozialproteste des letzten Sommers drückt es heute noch deutlicher aus: »Keiner aus der gegenwärtigen politischen Klasse in Israel hat eine Vision für die Zukunft. Es ist kein Erwachsener mit Verantwortung hinter dem Steuer.«

Von: 
Martin Hoffmann

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