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Muslime und Parteien in Indien

Die 180-Millionen-Minderheit

Analyse

Indiens Hindu-Nationalisten misstrauen der größten Minderheit im Land. Dabei sind die Muslime des Subkontinents vergleichsweise säkular eingestellt – womöglich weil ihre Interessen nicht in religiös definierten Parteien vertreten sind.

Indien ist die größte Demokratie der Welt. Im öffentlichen Leben spielen politische Wahlen hier eine beherrschende Rolle. Für einiges Ausehen sorgte daher die Forderung, man möge den Muslimen des Landes das Wahlrecht aberkennen. Der undemokratische Vorschlag stammte aus der Feder eines Abgeordneten der rechtsradikalen »Shiv Sena«-Gruppe in Mumbai, der Wirtschaftsmetropole Indiens. Da die Muslime von den politischen Parteien als »Stimmvieh« missbraucht würden, könnten sie als Gemeinschaft niemals vorankommen.

 

Die beste Lösung sei, so der höchst illiberale Kommentator, den Muslimen das Wahlrecht zu entziehen. Diese Episode gelangte in die Schlagzeilen der nationalen Presse, da der Schreiber ein Abgeordneter einer Partei ist, die mit der »Bharatiya Janata Party« (BJP) des Ministerpräsidenten Narendra Modi auf regionaler und nationaler Ebene eine Koalition bildet. Während dieser auf offzieller Mission im Ausland unterwegs war und auf der Hannover-Messe die Qualitäten des Invstitionsstandortes Indien anpries, distanzierte sich in Neu-Delhi ein Parteisprecher der BJP kurzsilbig von den undemokratischen Gedankenspielen des Koalitionspartners.

 

Etwa zeitgleich sorgte ein zweiter Vorgang mit starkem religionspolitischem Tenor und Islam-Bezug in Indien für Aufsehen. In Rampur, einer Ortschaft im Unionsstaat Uttar Pradesh, drohte eine Gruppe von 800 Dalits – dies ist die Bezeichnung der Menschen, die früher als »Unberührbare« diffamiert wurden – , sie würden zum Islam übertreten, falls die Ankündigung der Behörden, sie aus ihren Häusern zu vertreiben nicht zurückgezogen würde.

 

Die bedrängten Dalits haben ihre spektakuläre Drohung inzwischen fallengelassen. Vorangegangen war der Rückzieher des Amtes: »Wir hatten keine andere Wahl, als so zu handeln wie wir es getan haben«, sagte Kumar Eklavaya, einer der Anführer der Aktion. Indien ist ein multireligiöser Vielvölkerstaat und laut Verfasung eine sozialistische und säkulare demokratische Republik. Angesichts der besonderen Bedeutung der Religion im Leben der meisten Menschen und Völker stehen die Säkularität – und der Säkularismus – immer wieder auf den Prüfstand. In Indien vergeht kein Tag ohne Diskussionen über das Verhältnis von Politik und Religion. In diesen Diskussionen spielen häufig auch die Muslime eine Rolle. Bisweilen sind sie auch in diese Diskussionen aktiv einbezogen.

 

Konversionskampagnen sorgen bei muslimischen Organisationen für Aufsehen und Empörung

 

Die Muslime sind die zweitgrösste Religionsgemeinschaft Indiens nach den dominierenden Hindus. Geschätzte 180 Millionen Inder bekennen sich zum Islam. Somit ist Indien nach Indonesien das Land mit der zweitgrößten muslimischen Bevölkerung. Nach Berechnungen des US-amerikanischen »Pew Research Center« wird sich diese Reihenfolge ab 2050 ändern. Dann sollen in Indien mehr Muslime leben als in jedem anderen Staat der Welt – nämlich 310 Millionen an der Zahl. Diese demographische Dynamik ist radikalen Hindu-Organisationen, die um die Vormachtstellung der Hindus fürchten, ein Dorn im Auge.

 

Mit Konversionskampagnen, die gezielt auf ärmere Muslimgemeinden ausgerichtet sind, und Appellen an die Hindu-Frauen, mehr Kinder in die Welt zu setzen, versuchen sie, den bevölkerungspolitischen Trend aufzuhalten. Vor allem die Konversionskampagnen sorgen bei muslimischen Organisationen für Aufsehen und Empörung. Zum Politikum ersten Rangs werden die Vorgänge, da die Drahtzieher als ideologische Vorfeldorganisationen der regierenden hindu-nationalistischen BJP bezeichnet werden können.

 

Interkommunale und interreligiöse Konflikte haben seit der Staatsgründung Indiens 1947 verschiedentlich die nationale Harmonie erschüttert. Die Bewahrung des Friedens zwischen den religiösen Gemeinschaften ist daher Staatsräson. Verglichen mit Zuständen in anderen multireligiösen Gemeinwesen, die von Zwist und Bürgerkriegen zerrissen sind, können die Inder – aller Probleme und Herausforderungen zum Trotz – heute auf eine positive Bilanz verweisen. »Indiens Muslime gehören womöglich zu den am besten geschützten Minderheiten in der Welt«, schreibt Hasan Suroor, selber ein Muslim, in seinem aktuellen Buch »India’s Muslim Spring«, dem er den Untertitel gegeben hat »Why is nobody talking about it?« – zu deutsch: Warum spricht niemand hierüber?

 

Nur eine Handvoll indische Muslime ist den Lockrufen der IS-Anwerber zum Dschihad in Nahost gefolgt

 

Die indische Regierung spricht wohl und gerne über die Lage der indischen Muslime, vor allem wenn es um die islamistische Radikalisierung geht, die längst – gerade auch in Südasien – eine geostrategische Herausforderug ist. In diesem Sinne wird beispielsweise Innenminister Rajnath Singh nicht müde, den Patriotismus der indischen Muslime zu würdigen: »Das Scheitern des IS, indische Muslime anzuwerben ist eine Folge der vollständigen Integration der indischen Muslime in das Gemeinwesen.

 

Indische Muslime sind Patrioten und lassen sich nicht durch fundamentalistische Ideologien anziehen«, sagte der Minister kürzlich auf einer internationalen Konferenz. Tatsächlich sind buchstäblich nur eine Handvoll indische Muslime den Lockrufen der IS-Anwerber zum Dschihad in Nahost gefolgt. Während Vertreter muslimischer Verbände und Organisationen kein Problem hätten, die Aussage des BJP-Ministers in Bezug auf den Patriotismus zu unterschreiben, verweisen sie gleichzeitig auf die sozio-ökonomische Marginalisierung der indischen Muslime, die sich über die Jahre verschärft habe: »In allen sozialen Indikatoren hinken die Muslime hinterher«, schreibt Tanweer Alam in einem Meinungsbeitrag der Zeitung The Hindu.

 

Dort setzt er sich dafür ein, dass den Muslimen durch staatliche Förderprogramme im Sinne der »positiven Diskriminierung« systematisch geholfen wird. Derartige Programme, im englischen Sprachgebrauch auch als »affirmative action« bekannt, gibt es in Indien zuhauf – sie sind sogar in der Verfassung festgeschrieben worden mit der revolutionären Absicht, die zum Teil sehr großen soziökonomischen Verwerfungen zu überwinden. Im säkularen Indien sind die vielen sozialpolitischen Programme vor allem den unterbemittelten und diskriminierten Kasten zugute gekommen.

 

Diese sind politisch längst bestens organisiert und in der Lage, über Wahlallianzen und strategische Absprachen viel für ihre Klientel herauszuholen. Derlei politische Durchsetzungskraft fehlt den indischen Muslimen. Um sich politisch Gehör zu verschaffen, haben sie meist bei anderen – säkularen – Parteien angeklopft und um Gehör und Unterstützung gebuhlt, nicht immer mit großem Erfolg. Eine eigene, gar einheitliche politische Vertretung oder politische Partei der Muslime Indiens gibt es nicht. Insofern sind Indiens Muslime im Ergebnis säkularer als jene, die ihnen politisch nicht über den Weg trauen wollen.


Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Neu-Delhi.

Von: 
Ronald Meinardus

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