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Mord an Chokri Belaid in Tunesien

»Wir sind alle Chokri«

Feature

Nach der Ermordung von Chokri Belaid trägt Tunesien Trauer. Während die Opposition zu einem landesweiten Generalstreik aufruft, offenbaren die Reaktionen der Ennahda die Flügelkämpfe innerhalb der Regierungspartei.

Chokri Belaid, Generalsekretär der linken »Bewegung der demokratischen Patrioten«, war, neben Hamma Hammami, einer der führenden Köpfe der im Oktober 2012 gegründeten, linksgerichteten Oppositionsbewegung »Volksfront«. Diese Gruppierung, bestehend aus einem Dutzend radikal linker, nationalistischer und grüner Parteien, ist, neben der zentristischen Koalition um »Nidaa Tounes« eine der beiden erstarkenden politischen Kräfte des Landes, die der islamischen Ennahda Paroli bieten. Nun, nachdem Chokri Belaid am Morgen des 6. Februar vor seinem Haus von mehreren Kugeln getroffen wurde, machen viele Tunesier die Regierungspartei Ennahda für seinen Tod verantwortlich.

 

Dabei steht nicht zur Diskussion, dass Ennahda selbst die Attentäter geschickt haben könnte. Stattdessen wird die Partei für das politische Klima verantwortlich gemacht, die eine solche Tat ermöglicht. Denn noch ist unklar, wer auf Belaid schoss, es gibt kein Bekennerschreiben. Bisher gehen die Behörden von zwei Tätern aus – einer hätte die Schüsse abgegeben und sei dann mit seinem Komplizen auf einem Motorrad geflohen. Hamma Hammami, der zweite Kopf der »Volksfront« und Wegbegleiter Chokri Belaids, glaubt, dass der Mord »geplant und von Profis ausgeführt« worden sei. I

 

hm zufolge liegt die Verantwortung bei der Regierung, da sie bisher mit zu großer Nachsicht auf Gewalt reagiert habe. Tatsächlich stießen in den letzten Wochen radikale Islamisten und Opposition vermehrt zusammen. In neuen und alten Medien sowie in den Moscheen wurde offen Stimmung gegen die Opposition und die Gewerkschaften gemacht, Gruppen wie die »Ligen zum Schutz der Revolution« griffen Versammlungen und Demonstrationen immer wieder an. Der Angriff auf den Sitz der Gewerkschaft UGTT in der Altstadt von Tunis am 4. Dezember 2012 war hier nur der prominenteste Fall.

 

An die Stelle der radikalen Salafisten sind die »Ligen zum Schutz der Revolution« getreten

 

Chokri Belaid hatte diese Entwicklungen teilweise heftig kritisiert. Noch am Tag vor seiner Ermordung hatte er die Ennahda-Bewegung beschuldigt, mit ihrer Politik Krisen und Gewaltexzesse hinauf zu beschwören. Die Partei würde außerdem die Kontrolle der Administration und der Justiz anstreben und das Militär schwächen. In den vergangenen Tagen hatte er »Ennahdas Söldnern und Salafisten« vorgeworfen, hinter Angriffen auf ein Parteitreffen am vergangenen Samstag in der Provinzhauptstadt Kef zu stehen.

 

Obschon die »Ligen zum Schutz der Revolution« offiziell nicht zu Ennahda gehören, wird ihr Diskurs, der die Opposition als Kontrarevolutionäre und »Abschaum des alten Regimes« diffamiert, von Teilen der Partei geteilt. Noch am vergangenen Samstag wurde in einem offiziellen Kommuniqué nach einem Treffen der höheren Ränge Ennahdas gefordert, Mitglieder der Liga, die vor einigen Monaten nach einem Akt der Lynchjustiz an einem Aktivisten von »Nidaa Tounes« in Tataouine verhaftet wurden, freizulassen und zu rehabilitieren.

 

Nachdem im letzten Jahr Salafisten weitgehend ungestraft für Unruhe sorgen konnten, ging der Regierung der Sturm auf die amerikanische Botschaft im September 2012 zu weit. Wie in anderen arabischen Ländern hatten Bürger gegen den anti-islamischen Film »Die Unschuld der Muslime« protestiert. Die Demonstration artete in einem Sturm auf die Botschaft und die angrenzende amerikanische Schule aus. Seitdem sind radikale Salafisten auf dem Radar der Ordnungskräfte, und an ihre Stelle sind die »Ligen zum Schutz der Revolution« getreten. Einige Beobachter, wie der Journalist und Schriftsteller Samy Ghorbal, sehen die Ligen als Milizen des rechten Flügels Ennahdas, der mit einer Strategie der Einschüchterung ein Wiedererwachen der Opposition verhindern will.

 

Premier Jebali ist schon einmal mit der Kabinettsumbildung gescheitert

 

In der Tat hat sich die Position der islamistischen Partei seit den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011, bei der sie 40 Prozent der Stimmen für sich beanspruchen konnte, radikal verändert. Die damals zersplitterte Opposition hat sich in größeren Koalitionen versammelt, die nun ein echtes Gegengewicht darstellen. »Nidaa Tounes«, die Nachfolgepartei des alten Regimes, zieht in Umfragen mit Ennahda gleich, und die linke »Volksfront« liegt bei sieben bis zehn Prozent. Nicht nur legen beide Blöcke in den Umfragen zu, sie bewegen sich auch politisch aufeinander zu.

 

Die regierende Troika hingegen zerfällt zusehends. In diesem Kontext ergreifen Teile der Islamisten drastische Maßnahmen, um das Wiedererstarken der Opposition zu verhindern, in dem Oppositionsgruppen gehindert werden, Sitzungen im Landesinneren, der bisherigen Hochburgen Ennahdas, abzuhalten. Außerdem kommt es zu Verzögerungen bei der Ausarbeitung der Verfassung und bei der Einsetzung einer Wahlkommission. Für Ennahda wird es nun eng, und doch kann sich die Partei nicht auf eine gemeinsame Position einigen.

 

Die Ankündigung des tunesischen Ministerpräsidenten und Vertreter des gemäßigten Ennahda-Flügels, Hamadi Jebali, die Regierung aufzulösen und ein Expertenkabinett zu bilden, wurde vonseiten anderer Führungsmitglieder zurückgewiesen. Nachdem sich die Sicherheitslage und die wirtschaftliche Situation zugespitzt hatten, kündigte Jebali schon vor einigen Monaten eine Kabinettsumbildung an. Die Aussicht, nicht der Ennahda zugehörigen Politikern wichtige Posten auf der Regierungsbank zu überlassen, rief damals heftige Reaktionen in seiner Partei hervor, die Umbildung wurde mehrmals verschoben.

 

Noch wenige Stunden nach dem Attentat auf Chokri Belaid rief Rachid Ghannouchi, nachdem er jegliche Verantwortung Ennahdas bestritten hatte, dazu auf, die Kabinettsumbildung zu annullieren. Angesichts der schwierigen Lage ist die politische Zukunft des Landes unsicherer denn je. Schon kurz nach dem Attentat zirkulierte die Nachricht des Todes Chokri Belaids im Radio und auf den sozialen Netzwerken, Menschen versammelten sich vor dem Innenministerium im Zentrum der Stadt, um gegen politische Gewalt und Straflosigkeit zu demonstrieren.

 

Dort hörte man wieder die Schlachtrufe der Revolution: »Das Volk will den Sturz des Regimes« und »Dégage – Hau ab«, aber auch »Wir sind alle Chokri«, und »Ob Terrorismus oder Kugeln, Tunesier sind furchtlos«. Die Polizei ging mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. Auch die Oppositionsparteien mobilisieren ihre Anhänger, mehrere Parteien haben angekündigt, vorerst nicht mehr in der verfassunggebenden Versammlung mitarbeiten zu wollen. Alle Oppositionsparteien rufen zu einem Generalstreik am Freitag auf.

Von: 
Johanne Kübler

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