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Massaker an Jesiden im Irak

»Wir sind im Sindschar-Gebirge vom IS umzingelt«

Interview
von Leylan Uca

Im August flüchteten tausende Jesiden vor dem IS ins Sindschar-Gebirge. Nun schlägt Seid Hesen Seid von der »Jesidischen Demokratischen Freiheitsbewegung« (TEVDA) Alarm: Die Dschihadisten wollen das Massaker an der Minderheit fortsetzen.

zenith: Seit dem 20. Oktober wird Sindschar wieder von den Terroristen der Gruppe  »Islamischer Staat« (IS) angegriffen. Wie ist die Lage im Moment?

Seid Hesen Seid: Seit Tagen sind wir im Sindschar-Gebirge unter Beschuss der IS-Terroristen. Sie greifen ständig an und versuchen sich nun, um das Gebirge herum zu positionieren. Der IS will das Gebirge einnehmen. Viele Dörfer und auch die Stadt Sindschar selbst sind schon vom IS besetzt. In den wenigen Dörfern, die noch nicht eingenommen sind, liefern sich kurdische Kämpfer und der IS heftige Gefechte.

 

Das heißt, die Menschen, die Zuflucht im Sindschar-Gebirge gesucht haben, sind jetzt komplett von den IS-Terroristen umzingelt?

So ist es. Bislang hatten wir noch den Fluchtkorridor, den die »Volksverteidigungseinheiten« (YPG) im August nach Syrien freigekämpft hatten, um die Jesiden aus Sindschar nach Syrien zu bringen. Über diesen Korridor konnten auch Nahrungsmittel und Hilfsgüter ins Gebirge transportiert werden. Allerdings ist dieser Korridor nun vom IS besetzt. Wir sind umzingelt und der IS versucht nun, ins Gebirge zu gelangen, um das Massaker vom 3. August fortzusetzen und die Menschen vernichten.

 

Wie viele Menschen halten sich gerade im Sindschar-Gebirge auf?

Es befinden sich etwa 1.446 Familien hier im Gebirge, also etwa 12.000 Zivilisten und circa 3.000 Kämpfer.

 

Und wer kämpft gerade dort gegen den IS?

Seit dem Angriff des IS im August haben die syrischen YPG die Jesiden dabei unterstützt, eine eigene jesidische Einheit zu gründen. In dieser »Widerstandseinheit Sindschar« (YBS) kämpfen jesidische Frauen und Männer. Zurzeit kämpfen mehrere Einheiten zusammen in Sindschar: die »Volksverteidigungseinheiten« der PKK (HPG), die syrischen YPG und deren Fraueneinheit YPJ, die jesidische Einheit YBS und einige Peschmerga-Kämpfer.

 


Seid Hesen Seid

wurde 1970 in Somani, einem Dorf bei Sindschar, geboren. Seit 2006 ist er Vorsitzender der »Jesidischen Demokratischen Freiheitsbewegung« (TEVDA). TEVDA wurde 2004 in Mossul gegründet und engagiert sich in der Bildungs- Kulturarbeit für die jesidische Gemeinschaft im Irak.


 

Halten sich seit den Angriffen vom 20. Oktober denn noch Zivilisten in den Dörfern um das Sindschar-Gebirge auf?

Nein, es gibt keine Zivilisten mehr in den Dörfern. Die meisten Orte sind ja auch schon vom IS besetzt. Wer fliehen konnte, ist auch geflohen. Vereinzelt wurden Jesiden auf der Flucht von den IS-Terroristen gefangen genommen.

 

Die Kämpfer des IS nehmen auch jesidische Pilgerstätten ins Visier.

Ja, unsere heilige Stätte Quba Amadin, in der Nähe von Solak, wurde zerstört. Unweit von dort befindet sich noch eine weitere heilige Stätte, die vom IS besetzt ist, aber noch nicht zerstört wurde. Aber das Problem sind gerade eher die Menschen, die sich im Gebirge aufhalten, denn sobald es nebelig ist, können die IS-Kämpfer in das Gebirge gelangen, ohne das wir sie sehen können.

 

Hatten Sie denn mit einem erneuten Angriff seitens der IS-Terroristen gerechnet?

Nein, wir haben gar nicht damit gerechnet. Der IS hat den gewünschten Erfolg in Kobane nicht erzielt, den will er sich nun hier in Sindschar holen. Die IS-Kämpfer haben sich rund ums Gebirge platziert und werden immer mehr. Sie kommen aus allen Richtungen: aus Syrien, Mossul und Tel Afar. Wir befinden uns in einer schwierigen Situation.

 

Wie geht es den Menschen im Gebirge gerade?

Es ist bekannt, dass jesidische Männer auf bestialische Weise umgebracht werden, 13-jährige Mädchen werden binnen eines Monats vier Mal verheiratet und unseren 5-jährigen jesidischen Kindern, die in die Hände des IS fallen, wird der Koran gelehrt. Natürlich haben die Menschen hier im Gebirge Angst. Der IS hat es ja nun auf sie abgesehen. Frauen, junge Mädchen und Kinder befürchten das Schlimmste. Sie wissen, was ihnen bevorsteht, wenn es dem IS gelingen sollte, das Gebirge einzunehmen.

 

Wie gehen die Menschen mit dieser Bedrohungslage um?

Viele Menschen hier würden lieber von der internationalen Antiterrorallianz bombardiert und umgebracht werden, als in die Hände des IS zu fallen.

 

Wie lange reichen denn die Nahrungsvorräte vor Ort noch aus?

Unter den jetzigen Umständen würden wir eine Woche auskommen. Aber was die Munition betrifft, wird es in ein paar Tagen knapp.

 

Bekommen Sie Unterstützung von der von den USA geführten Antiterrorallianz gegen den IS oder von der kurdischen Autonomieregierung?

Hin und wieder hören wir sie, allerdings sind die Luftangriffe nicht intensiv und haben auch noch nicht den gewünschten Erfolg erzielt.

 

Deutschland hat Waffen an die irakischen Kurden geliefert. Hat die Jesiden-Miliz YBS wiederum Hilfe von der kurdischen Regierung erhalten?

Die YBS haben keine Waffen erhalten. Die Peschmerga der kurdischen Regierung haben Waffen bekommen, aber sie kämpfen hier nicht so, wie wir es erhofft hatten. Es reicht also nicht aus.

 

Welche Unterstützung brauchen die Menschen im Sindschar-Gebirge?

Bedenken Sie, es gibt 1.446 Familien und nur 200 Zelte. Wenn es regnet, haben es die Menschen schwer. Wir hatten zwar Kleidung von der YPG aus Syrien bekommen, aber es fehlt an Winterbekleidung und Schuhen sowie an medizinischer Versorgung. Aber im Moment ist das unwichtig im Vergleich zu dem, was die Menschen hier wirklich benötigen, um einem Massaker zu entkommen: Unterstützung von außerhalb! Sollte der IS Raketen auf das Gebirge abfeuern, dann gibt es kein Entkommen.

 

Welche Art von Unterstützung über den Luftweg würden die Menschen im Moment am dringendsten benötigen?

Bislang waren Hilfsgüter für die Bevölkerung im Gebirge von großer Bedeutung. Nun ist es extrem wichtig, dass nicht zugelassen wird, dass der IS ins Gebirge gelangen kann. Intensive Luftangriffe von der von den USA geführten Antiterrorallianz sind wichtig. Und die Kämpfer, die die Zivilbevölkerung im Sindschar-Gebirge beschützen, sollten unterstützt werden. Sie brauchen Waffen, Munition, militärische Ausrüstung, Fernrohre etc. Fernrohre sind ganz wichtig, da der IS meist bei Nebel und im Dunkeln angreift.

 

Wieso ist Sindschar Ihrer Meinung nach so wichtig für den IS?

Die Jesiden sind für den IS Ungläubige, sie werden als »Kuffar« bezeichnet. Seit 1.400 Jahren versucht man, sie zu vernichten. Aber natürlich ist der Ort Sindschar für den IS genauso von strategischer Bedeutung. Von Mossul aus führt die wichtigste Verkehrader des IS an Sindschar vorbei nach Raqqa in Syrien. Sollte der IS Sindschar komplett erobern, so bedeutet das nicht nur die Vernichtung der Jesiden, sondern auch einen wirtschaftlichen Aufschwung für den IS. Leylan Uca, geboren in Celle, ist selbst Jesidin und lebt als freie Journalistin in Köln.

Von: 
Leylan Uca

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