Nach der Krise in Mali engagiert Marokko sich verstärkt in der Sahelzone, das Königreich will dort Schutzmacht eines toleranten Islams werden. Die religiösen Traditionen Westafrikas sollen den Dschihadismus bändigen.
Als Marokkos König Mohammed VI. im September 2013 anlässlich der Amtseinführung des neuen malischen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta das westafrikanische Land besuchte, werteten die meisten Beobachter das als Ausdruck einer aktiveren marokkanischen Diplomatie in Mali und der westlichen Sahelzone. Während der Visite wurde auf Ersuchen Bamakos unter anderem vereinbart, 500 malische Imame in Marokko ausbilden zu lassen. Hundert von ihnen haben ihre zweijährige Ausbildung in der Hauptstadt Rabat bereits begonnen, weitere 400 sollen über einen Zeitraum von sechs Jahren folgen.
Die Ausbildung umfasst neben Dogmatik und Koranexegese auch ein Studium von Geschichte, Geografie, der arabischen Sprache sowie der malischen Institutionen. Ebenso ist nach Angaben des marokkanischen »Ministeriums für Habous und religiöse Angelegenheiten« das Thema Menschenrechte Teil des Unterrichts. Das Ministerium beschreibt die Imam-Ausbildung als Marokkos Beitrag zum Wiederaufbau Malis sowie zu seiner Stärkung gegenüber religiösem Extremismus und preist die Initiative als Engagement für Frieden, Stabilität und Entwicklung in der Region.
Zudem werden die engen religiösen und kulturellen Bindungen zwischen beiden Staaten betont; diese beruhen auf einem gemeinsamen malikitisch sowie vom Sufismus geprägten sunnitischen Islam. Sicherlich ist die gemeinsame Ausbildungsinitiative auch eine Art »soft policy« Marokkos im Kampf gegen religiösen Extremismus. Das Königreich sieht sich als Vorreiter und Schutzmacht eines toleranten und gemäßigten Islams im Sahel-Sahara-Raum – der zunehmend von strengen bis radikalen wahhabitischen Strömungen herausgefordert wird.
Seit bereits 50 Jahren dringen solche Strömungen aus Saudi-Arabien, Pakistan oder Ägypten nach Westafrika ein. Dort herrschte bis dahin eher ein spirituelles Islamverständnis vor. Der westafrikanische Islam ist stark geprägt von sufisch orientierten Bruderschaften wie der Tidschaniya- oder der Qadiriya-Bruderschaft. Dieser afrikanische »Bruderschaftsislam« – der Begriff ist nicht zu verwechseln mit der islamistischen Muslimbruderschaft – zeichnet sich unter anderem durch die Verehrung islamischer Heiliger oder Gelehrter (Marabouts) aus. Salafistisch-wahhabitische Strömungen im Islam verurteilen den mystischen Zugang zur Religion als häretisch und unislamisch und versuchen ihn zu unterdrücken.
Seit den 1970er und 1980er Jahren ist insbesondere Saudi-Arabien bestrebt, seinen wahhabitischen Glauben verbunden mit – beziehungsweise unter dem Deckmantel von – humanitärer Hilfe zu verbreiten. Für die arabischen Golfstaaten gilt Subsahara-Afrika als das wichtigste Missionierungsterrain nach Südostasien. Die strengen islamistischen Ideen aus dem Nahen und Mittleren Osten drohen weite Teile der lokalen Bevölkerungen zu radikalisieren und könnten gleichzeitig ideologisch-religiöse Spannungen und Trennlinien innerhalb der lokalen Gesellschaften hervorrufen oder
verstärken. Als Mohammed VI. im September nach Mali reiste, empfing er daher auch zahlreiche Repräsentanten der lokalen Bruderschaften. Die Voraussetzungen dafür sind günstig: In Mali folgt die Mehrheit der Muslime den Lehren des Tidschaniya-Ordens, der im marokkanischen Fez sein religiöses Zentrum hat. Der 1737 in Südalgerien geborene Namensgeber der Bruderschaft, Ahmed al-Tidschani, ließ sich später in Fez nieder und gründete mit Unterstützung des marokkanischen Sultans Moulay Soulaiman seine Ordensgemeinschaft.
Die Tidschaniya war damit von Beginn an eng mit dem marokkanischem Herrscherhaus verbunden und konnte sich von Marokko aus über die westliche Sahara in ganz Westafrika ausbreiten. Die Grabstätte von Ahmed al-Tidschani in Fez ist bis heute eine bedeutende Pilgerstätte für Tidschaniya-Anhänger, insbesondere für Pilger aus dem Senegal. Der traditionelle Islam Westafrikas wird immer noch als Schutz gegen eine Radikalisierung der Gesellschaften in der westlichen Sahelzone betrachtet.
Das marokkanische Herrscherhaus hat daher ein Interesse, seine religiösen Bindungen zu Vertretern aus dem westafrikanischen Bruderschaftsislam zu pflegen und zu stärken. An der marokkanisch-malischen Ausbildungsoffensive nehmen auch viele Geistliche aus bekannten malischen Familien teil. Sie sollen als religiöse Speerspitzen wieder einen toleranten Islam in dem zuletzt krisengeschüttelten und von dschihadistischer Gewalt geplagten Land verankern.
Im September 2012 hatten sich bereits die Religionsminister der fünf Staaten der »Union des Arabischen Maghrebs« (UAM) zu einer Konferenz in Mauretaniens Hauptstadt Nouakchott versammelt, um über den wachsenden Einfluss von Al-Qaida und Salafisten im Maghreb-Sahel-Raum zu beraten. Erklärtes Ziel der Minister war es, ihre Gesellschaften gegen extremistische, radikale Ideologien zu immunisieren und einen Islam der Toleranz zu fördern.
Fundamentalismus und der Handel mit Menschen, Waffen und Drogen bedrohen auch den Maghreb
Im Zusammenhang mit dieser Herausforderung hat Marokko das Schlagwort der »sécurité culturelle et cultuelle« geprägt: der »Sicherheit der Kultur und der Religionsausübung«. Der neue, königsnahe Außenminister Salaheddine Mezouar kommentierte, diese kulturelle und religiöse Sicherheit in der Sahelzone sei eine wichtige Komponente der regionalen Sicherheit. Marokko, so Mezouar, nehme das Thema sehr ernst. Das nordafrikanische Königreich hat gleich mehrere Gründe, die Entwicklung in der Sahelzone außenpolitisch zur Priorität zu machen.
Zwar ist die eigene nationale Sicherheit nur mittelbar von der dortigen Lage und insbesondere von der jüngsten Krise in Nordmali betroffen. Dennoch kann eine Verschlechterung der Sicherheitslage in Mali und im Sahel den marokkanischen Staat an mehreren empfindlichen Stellen treffen. Das Erstarken des religiösen Extremismus – insbesondere vertreten durch »Al-Qaida im Islamischen Maghreb« (AQIM) –, der Menschen-, Waffen- und Drogenhandel im Sahel-Sahara-Raum und nicht zuletzt die zunehmenden Migrationsströme aus Subsahara- Afrika sind anhaltende Probleme für Rabat.
Poröse und nicht kontrollierbare Landesgrenzen sowie die Gefahr zunehmend fragiler Staatlichkeit drohen aus dem Sahel-Sahara-Gebiet einen sicheren Rückzugsraum für kriminelle Banden und gewaltbereite Extremisten in direkter Nachbarschaft zu machen. Jüngst sorgte die Veröffentlichung eines Al-Qaida-Videos für Aufregung: Darin wurde erstmals das marokkanische Königshaus direkt attackiert. Nicht erst seit der – von Marokko offiziell unterstützten – französischen Mali Intervention Anfang 2013 lässt sich ein intensiviertes sicherheitspolitisches Interesse Marokkos an der Sahelzone feststellen.
Bereits in der neuen marokkanischen Verfassung von 2011 wird das Ziel der verstärkten Zusammenarbeit mit den Ländern des Sahel-Sahara-Raums festgeschrieben. Rabat ist seit längerem bemüht, sein außenpolitisches Profil in der Region zu schärfen und seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu dieser Region auszubauen. Eine Forcierung des Engagements in der Sahelzone ist zugleich nämlich auch ein politisches Signal hinsichtlich der eingefahrenen marokkanisch-algerischen Rivalität in der Westsahara-Frage: Eine Anerkennung von Marokkos »Sahel-Dimension«, so die Meinung einiger Experten, stärke Marokkos Anspruch auf territoriale Souveränität über die seit 1976 besetzte Westsahara – die in Marokko offiziell als »südliche Provinzen« bezeichnet wird.
Darüber hinaus gilt das Signal aber auch der Gestaltung der regionalen Ordnung: Für Marokkos politische Elite reichen die natürlichen Außengrenzen des Landes in die Sahelzone. Mali sei – so formulieren es marokkanische Sicherheitsexperten – eine »natürliche Einflusszone« und eine »kulturelle Verlängerung Marokkos«. Unter der Herrschaft der Saadier im 16. Jahrhundert, zu Zeiten des Sultans Ahmed al-Mansour, reichte das marokkanische Reich bis in die malischen Städte Timbuktu und Gao. Heute begnügt sich Marokko damit, enge kulturelle und politische Beziehungen zu den Ländern des westlichen Sahels zu unterhalten. Der Kampf gegen religiösen Extremismus ist eine neue Komponente dieser engen Beziehungen.
Ellinor Zeino-Mahmalat ist promovierte Politologin und Projektkoordinatorin der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Marokko.