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Machtposse im Irak

Eine groteske Tragödie

Analyse

Statt gemeinsam nach politischen Lösungen zu suchen, treiben die politischen Eliten ihr Spiel im Irak auf die Spitze. Damit heizen sie neben dem sunnitisch-schiitischen auch den arabisch-kurdischen Konflikt weiter an.

Es ist eine groteske Tragödie, die sich seit Anfang Juni im Irak abspielt. Mossul fällt, weil ein großer Teil der rund 30.000 Soldaten der irakischen Armee – jene Truppe, die seit 2003 mit massiver Unterstützung der USA aufgebaut, ausgebildet und ausgerüstet wurde – vor einer Gruppe von, je nach Schätzung, 800 bis 1.500 Dschihadisten davonläuft (und sogar noch schweres Kriegsgerät zurücklässt). Den letzten Widerstand in Iraks zweitgrößter Stadt versuchen lokale Polizeikräfte sowie der Gouverneur von Ninive zu organisieren.

 

Ein Bild zeigt Athil al-Nujaifi mit einem Gewehr in der Hand auf den Straßen, kurz bevor der Gouverneur nach Erbil flüchtet. Dessen Bruder, Parlamentssprecher und Vorsitzender der größten sunnitischen Parteienkoalition im irakischen Parlament, Osama al-Nujaifi, bittet nicht nur die internationale Gemeinschaft um Hilfe, sondern fordert von der Führung der irakischen Kurden den Einsatz der Peschmerga in Mossul. Die kurdische Regionalregierung (KRG) unter Präsident Mesud Barzani spielt den Ball jedoch zurück mit der Begründung, dass die Verlegung von Peschmerga-Verbänden in Gebiete außerhalb der Autonomieregion eine formelle Anfrage von Ministerpräsident Nuri al-Maliki erfordere.

 

Der (schiitische) Ministerpräsident verhält sich zuerst einmal ruhig – und versucht dann, sich über die Ausrufung des Ausnahmezustands Sondervollmachten zu sichern. Dieser Versuch scheitert an den sunnitisch-arabischen und kurdischen Parlamentariern, die die Sitzung einfach boykottieren. Währenddessen rückt ISIS im Verbund mit der sunnitischen Aufstandsbewegung auf Bagdad vor. Statt Geschlossenheit zu demonstrieren, treiben die politischen Eliten ihr Spiel im Rahmen eines eskalierenden Bürgerkriegs auf die Spitze.

 

Ein gefährlicher Bestandteil dieses Spiels ist die politische Mobilisierung unter Bezug auf »ethnische« und konfessionelle Identitäten. Denn die drei großen Bevölkerungsgruppen im Irak, arabische Sunniten und Schiiten sowie Kurden, sind keine homogenen Akteure, wie manche Analysen suggerieren. Aus verschiedenen Konfessionen und »Volkszugehörigkeiten« folgt nicht automatisch der Staatszerfall. In den meisten Staaten ist das Gegenteil der Fall. Insofern verstellt die »ethnische Brille« etwas den Blick darauf, inwiefern die politischen Repräsentanten der verschiedenen Gemeinschaften im Irak für die Ereignisse der letzten zwei Wochen verantwortlich sind und welche Dynamiken der jetzigen Eskalation zu Grunde liegen.

 

Hintergrund für die Entwicklungen der letzten Wochen sind die Machtkämpfe, die sich in Malikis zweiter Amtszeit zugespitzt haben. Der zunehmend autoritäre Führungsstil des Ministerpräsidenten hat nicht nur einen großen Teil der Sunniten auf die Barrikaden getrieben, gegen deren politische Vertreter und Massenproteste sich die brutale Repression der vergangenen zwei Jahre in erster Linie richtete. Auch im schiitischen Lager distanzierten sich mit Muqtada as-Sadr und Ammar al-Hakim, dem Vorsitzenden des Obersten Islamischen Rat im Irak, zwei politisch einflussreiche Persönlichkeiten von Nuri al-Maliki.

 

Und schließlich eskalierte der Streit zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der KRG in Erbil an der Ölfrage. Nachdem die KRG begonnen hatte, Rohöl über eine neue Pipeline an der Zentralregierung vorbei in die Türkei zu exportieren, drehte die Regierung Maliki den Kurden im Februar 2014 den Geldhahn zu. Gemäß der irakischen Verfassung stehen den Kurden 17 Prozent der Einnahmen aus den irakischen Ölverkäufen zu, die laut Schätzungen 95 Prozent des Budgets der KRG ausmachen.

 

Die Dynamiken des irakischen Wahlkampfes, der insbesondere von Nuri al-Malikis Rechtsstaats-Koalition und Mesud Barzanis Demokratischer Partei Kurdistan (KDP) mit einer konfrontativen, nationalistischen Rhetorik geführt wurde, taten ihr Übriges, um die Konflikte weiter anzuheizen. Und noch im Wahlkampf begannen die Maliki-Gegner Gespräche zu führen. Erklärtes Ziel der KDP-Führung um Mesud Barzani war ein breites Anti-Maliki-Bündnis.

 

Dieses sollte neben den kurdischen Parteien und schiitischen Maliki-Gegnern, vor allem den »Sadristen«, auch die führenden Parteien der arabischen Sunniten, insbesondere die Partei von Parlamentssprecher Osama al-Nujaifi sowie die säkulare Nationale Koalition von Iyad Allawi umfassen. Trotz des Wahlerfolgs der Rechtsstaats-Koalition, die bei den Wahlen 92 von insgesamt 328 Parlamentssitzen gewann, war Malikis dritte Amtszeit als Ministerpräsident somit gefährdet.

 

Das Maliki-Lager wittert eine sunnitisch-kurdische Verschwörung

 

In dieser Situation nutzt das Desaster von Mossul dem politisch bedrängten Ministerpräsidenten paradoxerweise in einer Hinsicht. Unter dem Ansturm der sunnitischen Dschihadisten versammeln sich die Eliten der irakischen Schiiten, die Maliki-Kritiker Muqtada al-Sadr und Ammar al-Hakim inklusive, hinter dem Ministerpräsidenten und mobilisieren tausende von Freiwilligen für den bewaffneten Kampf. Dieser schnelle (Re-) Militarisierungs- und Radikalisierungsprozess der schiitischen Gemeinschaft im Irak birgt Sprengstoff weit über den Konflikt mit ISIS hinaus.

 

Denn aus dem Maliki-Lager wurden auch Stimmen laut, die die Auflösung der irakischen Armee in Mossul auf eine sunnitisch-kurdische Verschwörung zurückführen. Im Programm des Fernsehsenders Al-Iraqiya TV, der der Regierung Maliki nahe steht, wurden die Kurdenführung der Kooperation mit ISIS gegen die Zentralregierung bezichtigt. Anführer von schiitischen Milizen, insbesondere der radikalen Miliz Asa'ib Ahl al-Haq, drohen öffentlich, dass sie neben den sunnitischen Aufständischen auch die Kurden bekämpfen werden.

 

KRG-nahe Medien berichten bereits von Übergriffen, bei denen kurdische Taxifahrer von Milizionären von Asa'ib Ahl al-Haq und Soldaten der irakischen Armee misshandelt worden seien. Die Beschuldigungen aus dem Maliki-Lager schüren wiederum bestehende Ängste bei den Kurden, dass die irakische Armee, wie früher unter Saddam Hussein, ihre Waffen – insbesondere die mit neuen F-16 Kampfjets hochgerüstete Luftwaffe –  wieder gegen die Kurden einsetzt. War der innerkurdische Wahlkampf noch von der scharfen Rivalität der Parteien, vor allem zwischen der KDP und ihrer historischen Rivalin, der Patriotischen Union Kurdistan (PUK), geprägt, so lässt sich auf kurdischer Seite eine ähnliche Generalmobilmachung in nationalistische Eintracht beobachten.

 

Können die Kurden die Ölstadt Kirkuk halten?

 

Präsident Masud Barzani rief am 17. Juni auch alle Peschmerga im Ruhestand auf, sich bei ihren alten Einheiten zu melden und wieder in den aktiven Dienst zu treten. Alle Menschen in der Region Kurdistan sind aufgefordert, die kurdischen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Auch der im Parlament vertretene Teil der Islamisten steht hinter dem Präsidenten. Geistliche aus den Reihen der Islamischen Union Kurdistan (IUK), die als ein kurdischer Ableger der Muslimbruderschaft bezeichnet werden kann, erließen am selben Tag eine Fatwa, der zufolge jeder, der im Kampf für die Region Kurdistan fällt, ein Märtyrer sei.

 

Der erstarkende kurdische Nationalismus trägt natürlich nicht dazu bei, die Spannungen mit der Zentralregierung zu entschärfen. Zumal die Kurden die Gunst der Stunde genutzt haben, um in wenigen Tagen alle kurdisch besiedelten Teile in den zwischen Erbil und Bagdad seit Jahren umstrittenen Gebieten militärisch zu besetzen. Mit der Einnahme von Kirkuk am 12. Juni erfüllte sich für viele kurdische Nationalisten ein lang gehegter Traum. Die Kurden rechtfertigen diesen Schritt als Verteidigungsmaßnahme, weil die irakische Armee diese Gebiete schlichtweg verlassen hat.

 

Es mehren sich aber Statements, die darauf schließen lassen, dass die Kurden die eroberten Gebiete dieses Mal auch behalten wollen. Und die kurdische Regierung geht noch einen Schritt weiter. Direkt nach der Amtseinführung des achten Kabinetts der KRG am 18. Juni vermeldete eine regierungsnahe Nachrichtenagentur, dass die kurdische Präsidentschaft anstrebe, in zwei Jahren ein Referendum über den Verbleib der Region Kurdistan in einem föderalen Irak oder einer kurdischen Unabhängigkeit im Rahmen einer Konföderation abzuhalten.

 

KRG-Präsident Barzani hatte die Idee der Konföderation schon im Wahlkampf aufs Tapet gebracht. Ob sich die Kurden über diesen Weg für unabhängig erklären, hängt entscheidend davon ab, ob sie die nun eroberten Gebiete, allen voran die ölreiche Stadt Kirkuk, halten können. Die Regierung von Nuri al-Maliki hat zumindest vor dem Einmarsch von ISIS alles getan, um genau das zu verhindern. Es ist ein trauriges Lehrstück über das Ausspielen der »ethnischen« Karte im Rahmen von eskalierender Gewalt.

 

Führten politische Vertreter der irakischen Kurden, arabischen Sunniten und Schiiten noch vor wenigen Wochen Verhandlungen mit offenem Ausgang, formieren sich nun Allianzen entlang ethnisch-konfessioneller Linien. ISIS wirkt dabei nur als Katalysator. Ohnehin ist zu erwarten, dass über kurz oder lang Konflikte innerhalb der breiteren sunnitischen Aufstandsbewegung, ähnlich wie in Syrien, gewaltsam eskalieren.

 

In der Vergangenheit haben taktische Bündnisse von Dschihadisten mit lokalen Milizverbänden nicht lange gehalten

 

In der Vergangenheit haben schon die taktischen Bündnisse von Al-Qaida-Dschihadisten mit lokalen Milizverbänden nicht lange gehalten. Es darf auch gewettet werden, wie lange es arabische Nationalisten aus den Reihen der alten Baath-Partei mit den Dschihadisten aushalten. Erste Berichte über Spannungen liegen vor. Und schließlich sind die Aufständischen auf den Rückhalt aus der – mehrheitlich sunnitischen aber eben nicht mehrheitlich islamistischen – Bevölkerung angewiesen.

 

Nachdem ISIS in Mossul angeblich sogar verkündet hat, dass jede Person, die das läufige arabische Akronym »Da´ish« verwendet, mit 80 Peitschenhieben zu bestrafen sei, darf auch hier spekuliert werden, wann die Stimmung kippt. ISIS mag zwar eine militärisch schlagkräftige und finanziell nun bestens ausgestattete Dschihadistentruppe sein. Zahlenmäßig ist sie den Sicherheitskräften sowohl der Zentralregierung als auch der KRG weit unterlegen. Das zentrale Problem in diesem Konflikt ist die Marginalisierung der arabischen Sunniten im Irak.

 

Dieser Konflikt kann letzten Endes nur politisch, nicht militärisch gelöst werden. Mittelfristig mindestens ebenso brisant wie der Kampf gegen ISIS und deren Verbündete sind aber die gegenwärtigen Radikalisierungstendenzen, die den Konflikt zwischen irakischen Schiiten und Kurden anheizen. Besonders problematisch sind die Verschwörungstheorien, mit denen in diesem Zusammenhang gespielt wird. Die Umstände, unter denen Mossul in die Hände von ISIS fiel, lassen sich von allen Seiten für politische Propaganda ausschlachten. Denn fest steht mittlerweile, dass zumindest bestimmte Einheiten der irakischen Armee Anweisungen erhalten haben, die Stadt zu verlassen – unklar ist nur, wer diese Anweisungen gab.


Christoph J. König ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im Fachgebiet Internationale Beziehungen und Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Osnabrück und arbeitet im DFG-Forschungsprojekt »Security Governance durch Milizen«. Zu Forschungszwecken war er von März bis Ende Mai in der Autonomen Region Kurdistan, Irak.

Von: 
Christoph J. König

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