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Literatur in Indonesien

So wird Literatur in Indonesien gelebt

Feature

Indonesien, Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, steht für gemeinsames Leseerlebnis statt Lektüre im stillen Kämmerlein — und weckt unter dem Motto »17.000 Inseln der Imagination« Erwartungen auf literarische Begegnungen.

Mit dem Ende von Suhartos autoritär-repressiver »Neuer Ordnung« setzte 1998 ein beeindruckender Aufschwung in der indonesischen Literaturlandschaft ein. Indonesische Autoren suchen im Klima politischer und gesellschaftlicher Liberalisierung nach neuen Wegen: Sie experimentieren mit einer Vielfalt von sprachlichen Ausdrucksformen, nehmen postmoderne Einflüsse auf und wenden sich gesellschaftspolitischen Themen zu, die über Jahrzehnte tabuisiert oder nur indirekt thematisierbar waren.

 

Besonders Frauen überraschten durch ihren kreativen Umgang mit literarischen Formen und Sprache. Sie verbinden urbanen Jugendslang mit oft provozierenden Schilderungen weiblicher Sexualität und sozialer Kritik. Als wegweisend ist hier Ayu Utami zu nennen, deren Roman »Saman« einen neuen Trend weiblichen Schreibens einleitete. In den Romanen und Kurzgeschichten von Autorinnen wie Utami, Djenar Maesa Ayu und Dewi Lestari aus den 2000er Jahren, der so genannten »sastra wangi« (»duftende Literatur«) geht es vornehmlich um das Leben junger Frauen der säkularen, westlich orientierten urbanen Mittel- und Oberschicht, um sexuelle Selbstfindung und Emanzipation von traditionell-patriarchalischen Rollenbildern.

 

Utami verknüpfte die sexuelle Sinnsuche ihrer jungen Karrierefrauen in »Saman« mit Schilderungen von gesellschaftlicher Repression und staatlicher Gewalt unter dem Suharto-Regime sowie im Folgeroman »Larung«, der inzwischen auch auf Deutsch vorliegt, mit einer stilistisch am magischen Realismus orientierten Verarbeitung der weitgehend verdrängten traumatischen Machtergreifung Suhartos 1965. Die Komposition mit verschiedenen Erzählsträngen, Zeit- und Perspektivsprüngen mag den westlichen Lesern mitunter als zusammenhanglos erscheinen – Utami nennt »Saman« bezeichnenderweise ein »Fragment« –, doch gerade damit vermitteln diese beiden frühen Romane einen guten Einblick in die verwirrende Widersprüchlichkeit und das oft unverbunden wirkende Nebeneinander der unterschiedlichsten sozio-kulturellen Milieus im gegenwärtigen Indonesien.

 

Zu den erfolgreichen Autorinnen der Gegenwart zählt auch Okky Madasari. Mutig greift sie Themen von gesellschaftlicher Relevanz auf. In ihrem Roman »Gebunden« geht es um Diskriminierung von Transvestiten, Ausbeutung von Fabrikarbeiterinnen, Folter in Gefängnissen, das Schicksal von Prostituierten auf der Insel Batam (einer indonesischen Freihandelszone nahe Singapur), den Kampf ums tägliche Überleben, Kriminalität und islamistischen Fundamentalismus. Das Buch ist eine Schwindel erregende Tour de Force durch gesellschaftliche Missstände und soziale Abgründe.

 

Die wichtigsten indonesischen Romane der letzten Jahre wurden von Frauen geschrieben

 

Im Stil realistischen Erzählens nähern sich »Pulang – Heimkehr nach Jakarta« von Leila S. Chudori und »Alle Farben Rot« von Laksmi Pamuntjak dem Trauma von 1965 an. Chudoris Roman, der 2013 mit dem renommierten indonesischen »Khatulistiwa«-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, schildert das Schicksal einer Gruppe von indonesischen Journalisten im Pariser Exil, denen Suhartos Regime eine Rückkehr in die Heimat unmöglich macht.

 

Pamuntjak wiederum verknüpft gekonnt eine alte Erzählung aus dem Mahabharata-Epos mit einer Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der tragischen Ereignisse von 1965 und der Verbannung politischer Häftlinge auf die Gefängnisinsel Buru. Linda Christantys Essay- und Reportagensammlung »Schreib ja nicht, dass wir Terroristen sind!« gibt aus südostasiatischer Perspektive Einblick in ein sehr aktuelles Thema: die Ausübung von Gewalt und Willkür und ihre Legitimierung im Namen von Religionen, Ideologien, ethnischer Identität, Nationalismus und Demokratie.

 

Christanty, die für ihre Kurzgeschichten mehrere Auszeichnungen erhalten hat, war lange als Journalistin in Aceh tätig. Ihre Reportagen gehen weit über den indonesischen Raum hinaus und thematisieren unter anderem die Folgen der Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha und den Nationalsozialismus in Deutschland. Angesichts all dieser Autorinnen mag die Frage aufkommen: Wo bleiben die Männer? Indonesische Schriftstellerinnen scheinen in den aktuellen deutschen Übersetzungen zur Buchmesse überrepräsentiert, während bis vor kurzem vor allem männliche Autoren übersetzt worden waren  – so die großen

 

rzähler Pramoedya Ananta Toer, Mochtar Lubis, Y. B. Mangunwijaya und Armijn Pane. Das mag damit zusammenhängen, dass die wichtigsten indonesischen Romane der letzten Jahre von Frauen geschrieben wurden. Von Eka Kurniawan, einem der begabtesten jüngeren Autoren, wird vorerst nur ein Roman, »Tigermann«, auf Deutsch herausgebracht. Ohnehin wird die Zahl der bis zur Buchmesse übersetzt vorliegenden Texte sehr überschaubar bleiben. Das liegt maßgeblich an organisatorischen Gründen, einer viel zu kurzen Vorbereitungszeit und dem Mangel an professionellen Literaturübersetzern. Auch ist es schwer, deutsche Verlage von indonesischen Texten zu überzeugen, die sie vorab nicht lesen können.

 

Lebendige Vorlesetradition mit begrenzter Reichweite

 

Zudem wird die deutsche Vorliebe für Romane der indonesischen Literatur nur bedingt gerecht. Die traditionellen indonesischen Literaturformen waren vor allem an die mündliche Darbietung in Form von Rezitation, Gesang, Tanz und Theater gebunden. Das gilt auch für die Gegenwartsliteratur: Ausdrucksstarke Gedichtrezitationen ziehen ein großes Publikum an, lokale literarische Versammlungen veranstalten Lesungen, Diskussionen, Darbietungen  – Literatur wird in Indonesien selten im stillen Kämmerlein gelesen, sondern vor allem gemeinsam erlebt.

 

Auch Kurzgeschichten lassen sich dramatisch vortragen – man denke nur an die mitreißenden Lesungen des Balinesen Putu Wijaya. Die große Beliebtheit der publikumsnahen, in der mündlichen Tradition stehenden Literaturperformances trägt zwar zur außerordentlichen Lebendigkeit bei, ihre Reichweite bleibt aber oft lokal beschränkt. Das literarische Leben jenseits der Hauptstadt Jakarta und noch einmal mehr außerhalb der Insel Java ist nur schwer zu überblicken.

 

Problematisch ist auch die nur als höchst mangelhaft zu bezeichnende Vertriebsinfrastruktur: Neuerscheinungen auch großer Verlage sind nicht in allen Buchläden zu haben und verschwinden nach wenigen Monaten wieder aus den Regalen. Außerhalb Javas sind zwar Bücher lokaler Verlage zu finden, diese werden jedoch kaum in Java verlegt und bleiben im dortigen hegemonialen Literaturbetrieb weitgehend unbeachtet. Seit vier Jahren setzt das »Makassar International Writers Festival« auf der Insel Sulawesi ein Zeichen und fördert einen verstärkten Austausch mit Literaturschaffenden aus dem östlichen Indonesien.

 

Der Literaturszene der Hauptstadt, die sich gerne als repräsentativ für die indonesische Literatur darstellt, wird von vielen Autoren aus anderen Städten und Regionen eine elitäre und exklusive Haltung vorgeworfen. Innerhalb Jakartas wiederum dominiert seit Mitte der 1990er Jahre die international gut vernetzte Gruppe um das Kulturzentrum »Salihara« (ehemals »Utan Kayu«), der auch Ayu Utami, Laksmi Pamuntjak und Leila S. Chudori angehören.

 

Die Autoren aus dem weiteren Umfeld von Salihara sind es auch, die in Frankfurt das Bild prägen werden – mit dem renommierten Essayisten Goenawan Mohamad, einem der großen Intellektuellen Indonesiens, und Doyen aus der Salihara-Gruppe, als Leiter des indonesischen Buchmessekomitees. Auf der Buchmesse unterrepräsentiert, wenn nicht gar ausgeschlossen, bleiben somit andere wichtige Strömungen indonesischer Gegenwartsliteratur, wie zum Beispiel ein marxistisch beeinflusster volksnaher sozialer Realismus und bewusst postkolonial ausgerichtete Strömungen, wie die der »Boemipoetra«-Gruppe um den streitlustigen Poeten Saut Situmorang.

 

Von der Schärfe, mit der derzeit vor allem über soziale Medien in der multizentrischen indonesischen Literaturszene um Deutungshoheit und Anerkennung gestritten wird, wird auf der Frankfurter Buchmesse wohl kaum jemand etwas erfahren.

 

Die »islamische« Volksliteratur bleibt im Programm weitgehend außen vor

 

Auch eine weitere, sehr beliebte Richtung indonesischer Literatur wird auf der Buchmesse abwesend sein, die sogenannte »sastra Islami« – populäre »islamische Literatur«. Sie könnte Einblicke in die Weltsicht und Ideale der meist jungen frommen »Mainstream-Muslime« geben. Ihre Bestseller wie »Ayat-Ayat Cinta«  – eine melodramatische Liebesgeschichte um einen »vorbildlich frommen« indonesischen Studenten in Kairo – tragen wohl mehr zur Verbreitung einer Leseleidenschaft bei als die Werke der »sastra wangi«-Autorinnen.

 

Deren säkulare Protagonisten bleiben der alltäglichen Lebenswelt der eher konservativen Mittelschichten, die das Lesen auf der Suche nach moralisch-religiöser Orientierung neu für sich entdecken, weitgehend fremd. Für uns heißt das aber auch: Mit Werken der säkularen Schriftsteller Indonesiens werden wir Geschichten lesen, die letztlich eine uns im Westen vertraute Sprache sprechen. Indonesien hat zwar eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung, aber eine »islamische« Literatur, die über die zumeist trivialen religiösen Erweckungsnarrative der »sastra Islami« hinausgeht und sich der hierzulande präferierten Form des auch psychologisch differenzierten Romans bedient, sucht man bislang vergebens.

 

Sie scheint nicht den gegenwärtigen Erwartungen und Bedürfnissen der Autoren und Leser zu entsprechen, die entweder säkular-»westliche« Literatur bevorzugen oder Literatur, die die Sehnsucht nach Bestätigung einer heilen, in islamischer Idealität geborgenen Welt erfüllt. Angesichts der im Vergleich zu Europa gering ausgeprägten Lesekultur ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil der indonesischen Belletristik dem Bereich der Unterhaltungs- und Trivialliteratur zuzuordnen ist.

 

Aber auch der anspruchsvolleren Literatur merkt man mitunter an, dass es sich oft um erste literarische Annäherungsversuche an hochkomplexe gesellschaftliche Dynamiken handelt. Was passiert, wenn ein stilistisch und inhaltlich nicht ganz westlichen Vorstellungen entsprechender Roman so übersetzt wird, dass er hier als rührende Geschichte aus der Dritten Welt vermarktbar wird, zeigt exemplarisch Andrea Hiratas »Regenbogentruppe«, eines der international erfolgreichsten indonesischen Bücher. Wie stark sich die englischen und deutschen Versionen vom Original wegbewegen, gar ganze Handlungsstränge und Protagonisten neu eingefügt wurden, ist kaum bekannt.

 

Bürokratische Hürden stehen mehr Übersetzungen im Weg

 

Auch wurde in den Übersetzungen alles allzu trivial Islamische stillschweigend gestrichen. Andererseits kann man das auch als Weiterführung der mündlich geprägten Literaturtraditionen verstehen: Texte sind nicht so fest auf einen Wortlaut fixiert, sie können flexibel neuen Kontexten und Publikumserwartungen angepasst werden. Die vergleichsweise geringe Zahl von auf Deutsch vorliegenden Titeln ist ebenso bedauerlich wie die Tatsache, dass einige ältere, bereits ins Deutsche übersetzte Romane nicht neu aufgelegt wurden.

 

Von Pramoedya Ananta Toer, dem bis heute bedeutendsten indonesischen Prosaerzähler der Nachkriegszeit, wird in diesem Herbst lediglich »Kind aller Völker«, der zweite Band seiner berühmten »Buru«-Tetralogie, in Neuauflage vorliegen. Die bürokratischen Hürden des erst sehr spät in Gang gekommenen indonesischen Übersetzungsförderungsprogramms standen der zeitaufwändigen Klärung der Rechte und möglichen Überarbeitungen der bestehenden Übersetzungen im Wege.

 

Ein deutlich umfangreicheres Bild der literarischen Vielstimmigkeit Indonesiens bieten die englischen Übersetzungen der Lontar-Stiftung sowie deren dreisprachige BTW Books-Reihe. »Litprom« (Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e. V.) wird im Rahmen des Programms »Creative Matches for the Future« einige der BTW-Autoren wie AS Laksana, Cok Sawitri und Zen Hae in Frankfurt vorstellen.

 

Nicht zuletzt wird Indonesien uns mit seinem Talent für beeindruckende Lesungen und Live-Veranstaltungen begeistern können. Auftritte von Dichtern wie Sapardi Djoko Damono und anderen Lyrikern lassen den Zauber und die Kraft des flüchtigen lyrischen Wortes lebendig werden. Und sie werden uns die – hierzulande beinahe vergessenen  – mündlichen Ursprünge von Literatur wieder vor Augen führen.


Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 3/2015 der Zeitschrift südostasien.

Von: 
Bettina David

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