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Labyrinth aus dem Chaos

Labyrinth aus dem Chaos

Analyse

Der Regierungschef ist gestürzt, die Sicherheitslage nach wie vor prekär – doch immerhin hat in Libyen endlich die Arbeit an der neuen Verfassung begonnen. Und für die anstehenden Wahlen liegt jetzt ein Fahrplan vor.

In Libyen gibt es drei Jahre nach der Revolution gegen den langjährigen Machthaber Muammar al-Gaddafi nun eine Perspektive, wie der politische Übergang weitergehen soll. Für Juli 2014 sind Wahlen zu einem neuen Abgeordnetenhaus angesetzt, das dann den Allgemeinen Nationalkongress ersetzt – das Mandat dieses 2012 gewählten Übergangsparlaments ist eigentlich schon seit Februar abgelaufen. Außerdem muss noch ein Staatspräsident bestimmt werden.

 

Nach den ersten vorgestellten Grundzügen für die neue Verfassung soll das Staatsoberhaupt anschließend einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen, der eine Mehrheit im Parlament hinter sich weiß. So sehen es die Empfehlungen des am 20. Februar gewählten Verfassungskomitees vor, die der Nationalkongress in dieser Woche übernommen hat. Nach langem Hin und Her hat nun also immerhin das Verfassungskomitee seine Arbeit aufgenommen, auch wenn es bis zur Verabschiedung eines Grundgesetzes sicher noch eine ganze Zeit dauern wird.

 

Schon die Wahl vom 20. Februar war nämlich von allerlei Hindernissen begleitet. Obwohl die Kandidatenregistrierung bereits Mitte November 2013 abgeschlossen war, wurde der Urnengang wegen der angespannten Sicherheitslage im Land immer wieder verschoben. Dennoch mussten letztlich sowohl am eigentlichen Abstimmungstermin als auch an einem Nachholtermin wenige Tage später einige Wahllokale wegen Blockaden oder Angriffen geschlossen bleiben. Die Wahlbeteiligung lag entsprechend bei nur 45 Prozent.

 

Abgesehen von radikalen Salafistenmilizen, die den Verfassungsprozess komplett zum Scheitern bringen wollen, waren es vor allem Vertreter der Minderheiten, die zum Boykott der Abstimmung aufgerufen hatten und unter anderem die Ausgabe der Stimmzettel an manchen Orten verhinderten. Für die drei ethnischen Minderheiten der Amazigh (Berber), Tuareg und Tubu, die besonders im Westen und Süden Libyens leben, waren in dem 60-köpfigen Verfassungskomitee jeweils zwei Sitze reserviert worden.

 

Daneben gab es außerdem eine eigene Wahlliste nur für weibliche Kandidatinnen. Vertreter der Amazigh sahen diese Zahl allerdings als zu gering an und stellten erst gar keine Kandidaten auf, während sich Tubu zwar als Bewerber registrieren ließen, die Tubu-Organisation aber schließlich auch zum Boykott aufrief.

 

Die Mehrheitsfindung im Übergangsparlament wird schwierig

 

Wegen dieser Probleme konnten zunächst nur 47 der vorgesehenen 60 Sitze besetzt werden. Nachdem sich der Nationalkongress jetzt aber dafür ausgesprochen hat, Minderheitenfragen in der neuen Verfassung nur im Konsensprinzip zu regeln (sodass die Minderheitenvertreter im Verfassungskomitee nicht einfach überstimmt werden können), zeigen sich erste Repräsentanten von Amazigh und Tubu bereit, die für sie bestimmten Sitze doch noch zu vergeben.

 

Bislang sind unter den Mitgliedern des Komitees fünf Frauen und ein Vertreter der Tuareg, der Rest sind männliche Araber. Zu allem Überfluss steht Libyen seit dem 11. März 2014 ohne Regierung da: Nach der Affäre um einen nordkoreanisch beflaggten Tanker, der illegal libysches Erdöl vom Terminal in Sidra ausgeführt haben soll, stürzte der Nationalkongress Ministerpräsident Ali Zeidan durch ein Misstrauensvotum und setzte den bisherigen Verteidigungsminister Abdallah al-Thinni als Übergangspremier bis zur Bildung eines neuen Kabinetts ein.

 

Gegen Zeidan wurden zudem Ermittlungen wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten eingeleitet – doch der abgesetzte Regierungschef hat das Land inzwischen verlassen. Wer die Geschicke Libyens in Zukunft bestimmen wird, ist also momentan unklar. Im Übergangsparlament sind die meisten Abgeordneten unabhängige Vertreter lokaler Interessen, und auch für das Verfassungskomitee standen nur parteilose Einzelkandidaten zur Wahl.

 

Das macht die Mehrheitsfindung schwierig. Außerdem wird schon wieder heftig über die anstehenden Wahlen – die ja endlich politische Stabilität bringen sollten – gestritten. Der Modus für die Urnengänge ist noch völlig unklar; das Prozedere vom 20. Februar, das von Wahlkreis zu Wahlkreis verschieden war, gilt jedenfalls als zu kompliziert. Nach den Vorschlägen des Verfassungskomitees soll das Staatsoberhaupt künftig direkt vom Volk gewählt werden.

 

Die Politik bekommt die Gewalt durch Milizen nicht in den Griff

 

Politiker der Gerechtigkeits- und Aufbaupartei der Muslimbrüder haben nun allerdings eine Wahl des Präsidenten durch das neue Abgeordnetenhaus ins Spiel gebracht. Die Partei der Muslimbruderschaft ist derzeit die einzige wirklich landesweit verankerte politische Gruppierung. Deshalb rechnet sie sich bessere Chancen aus, im Parlament stärkste Kraft zu werden. Eine Direktwahl des neuen Staatspräsidenten käme dagegen wohl den eher liberalen Parteien entgegen, die sich in der »Allianz der Nationalen Kräfte« zusammengeschlossen haben.

 

Die Allianz gewann zwar 2012 die erste freie Wahl nach dem Sturz der Diktatur, ist aber keineswegs homogen, sondern besteht aus zahlreichen einzelnen Parteien mit jeweils lokalen oder regionalen Schwerpunkten. Sie verfügt jedoch über bekannte und populäre Gesichter, allen voran ihren Vorsitzenden Mahmud Jibril, der während des Bürgerkriegs von 2011 als Regierungschef der Aufständischen amtierte. Eines ist jedenfalls sicher: In der Bevölkerung werden solche nicht endenden Querelen das Ansehen der Politiker insgesamt weiter verschlechtern.

 

Nach Umfragen sind immer mehr Libyer mit der Arbeit von Regierung und Parlament unzufrieden, vor allem weil die Behörden das drängendste Problem, die allgegenwärtige Gewalt durch Milizen, nicht in den Griff bekommen. Stattdessen werden »leicht bizarre Projekte« (so die Tageszeitung Libya Herald) beschlossen: Der Nationalkongress hat zum Beispiel einen Entwicklungsfond für die Regionen des Landes eingerichtet – dabei sind in der staatlichen Verwaltungsstruktur überhaupt keine Regionen vorgesehen.

Von: 
Jakob Krais

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