Das Ergebnis der Kommunalwahlen in der Türkei ist weit mehr als ein Stimmungsbarometer zu Netzsperren und Korruption. Denn Erdogans Wählern geht es um ganz grundsätzliche Dinge, seinen Gegnern aber ebenfalls.
Selten waren Kommunalwahlen in der Türkei so spannungsgeladen, wie die vom 30. März 2014, denn Wahlkampf erinnerte eher an ein Referendum. Das erste Stimmungsbarometer nach Korruptionsvorwürfen, Internetsperren und den Gezi-Park-Protesten.
Die Mehrheit der Wahlberechtigten stimmten für den Kurs von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Noch bevor Ministerpräsident Erdogan oder Außenminister Ahmet Davutoğlu zu den Telefonmitschnitten, die Ende Februar auf YouTube auftauchten, Stellung bezogen, hatten viele AKP-Anhänger ihre Erklärung parat.
So wie Mehmet Yildirim, der eine Textilfabrik im Westen Istanbuls betreibt. »Das sind diese Vaterlandsverräter in Pennsylvania. Die stecken mit den Israelis und den Amerikanern unter einer Decke! Die können es nicht ertragen, dass die Türkei zu einer regionalen Macht aufsteigt«, sagt Yildirim und meint damit das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen, der sich seit einigen Monaten einen erbitterten Machtkampf mit Erdogan leistet.
Von Verschwörungstheorien und Vaterlandsverrätern
Mehmet Yildirim steht mit solchen und ähnlichen Verschwörungstheorien nicht alleine da. Geschickt lenken die AKP-nahen Medien in der Türkei das Thema auf die innere Sicherheit des Landes. »Wie können in einem abhörsicheren Raum im Außenministerium Telefonmitschnitte gemacht werden?«, ist die Frage, die die meisten beschäftigt. Dass der Inhalt der abgehörten Gespräche und die Korruptionsvorwürfe jede demokratische Regierung zum Sturz gebracht hätte, spielt dabei kaum eine Rolle.
Im Gegenteil: Die Regierung nutzt die kompromittierenden Abhörmitschnitte, um die Abschaltung des Kurznachrichtendienstes Twitter und der Videoplattform YouTube zu rechtfertigen. »Die Amerikaner jagen den Edward Snowden doch auch. Wer Geheimnisse verrät, ist ein Verräter«, sagt Mehmet energisch.
Viele Mittelständler im Einzelhandel denken wie er. Aus einfachen Verhältnissen stammend, hätte der liberal-muslimische Geschäftsführer Mehmet Yildirim in der Türkei vor Erdogan keine Chance in den staatlichen Strukturen der alteingesessenen republikanischen Kemalisten gehabt. Für viele gläubige Bürger bot die Privatwirtschaft daher die einzige Aufstiegschance.
»Ich wähle Erdogan. Da kannst du mir erzählen, was du willst«
Als Erdogan mit seinem Einzug ins Ministerpräsidentenamt 2003 die verkrusteten Strukturen aufbrach und die Privatwirtschaft ankurbelte, profitierten vor allem die gläubigen Händler, Kaufleute und Fabrikanten vom Wirtschaftsaufschwung. Aber auch bei den Bauern genießt Erdogan eine breite Unterstützung. Sie können sich noch gut an Zeiten erinnern, in denen der Strom regelmäßig ausfiel und über mehrere Stunden kein Wasser aus den Leitungen kam.
Die Infrastruktur war im Straßenbau, bei öffentlichen Verkehrsmitteln, der Groß- und Kleinindustrie, dem Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem marode. »Ich wähle Erdogan. Da kannst du mir erzählen, was du willst. Er ist der einzige Politiker, der nach islamischen Prinzipien handelt. Außerdem bekomme ich pünktlich meine Rente, der Arzt und die Medikamente kosten mich nichts. So lange ich lebe, bekommt er meine Stimme«, sagt der 70-jährige Hasan Shahin. Als er noch Lehrer war, wurde er nicht befördert, weil er sich zu seinen religiösen Pflichten bekannte.
Das Pendel der jahrzehntelangen Diskriminierung schlägt nun zurück. Jetzt ist es das ehemalige Establishment, das in dem verfilzten System keine Chance hat. »Wer nicht in den Club gehört, der hat keine Chance und wird nach unten durchgereicht«, sagt Gülcan Tuner*, die viele Jahre als Nachrichtensprecherin beim türkischen Fernsehsender TRT arbeitete. Als Beamte konnte sie nicht gekündigt werden, aber auch nicht unbedingt immer ihre Meinung kundtun: »Ich wusste es von Anfang an. Erdogan betreibt eine schleichende Islamisierung. Dabei hat unser Staatsgründer Atatürk in weiser Voraussicht die Türkei als laizistischen Staat gegründet.«
»Nur mit Erdogan gibt es Frieden«
Diese Trennung von Religion und Staat ist in den Augen der meisten CHP-Wähler verloren gegangen. Doch seit dem Sex-Tape-Skandal um CHP-Parteichef Deniz Baykal hat auch diese kemalistische Partei das Vertrauen der Bevölkerung verloren. Weder Aufsteiger Mustafa Sarigül noch Politprofi Kemal Kılıçdaroğlu konnten das Image aufpolieren und Themen setzen. Die ultranationalistische MHP mit dem Spitzenkandidat Devlet Bahceli profitiert von der sozialdemokratischen Neuorientierung der CHP.
»Das sind alles Faschisten«, pöbelt Mustafa Kurtoglu, Kellner eines Männerkaffees in einem Randbezirk von Istanbul, jeden an, der ihn auf die CHP oder die MHP anspricht. Er selbst ist Kurde und hatte bislang immer die kurdisch dominierte Partei BDP gewählt, aber dieses Mal, da ist er sich sicher, braucht Erdogan seine Stimme. »Mit den anderen Parteien gibt es nur Blutvergießen. Das haben wir schon gesehen. Nur mit Erdogan gibt es Frieden«, sagt er und serviert dabei eine neue Runde Tee.
Die Bevölkerung ist tief gespalten und Koalitionen kaum möglich. Daher versuchte Erdogan erst gar nicht, andere Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen, sondern rückte sich selbst in den Mittelpunkt des Wahlkampfs. Bei den Präsidentschaftswahlen im August wird es vermutlich wieder einen solchen zugespitzten Wahlkampf geben. Wahrscheinlich wird die AKP auch diesen Wahlkampf dominieren, denn eine starke Opposition ist nicht in Sicht. *Name geändert