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Jüdischer Extremismus in Israel

Nicht Preisschild, sondern Terror

Analyse

Offen wie nie verurteilen Israels führende Politiker Angriffe jüdischer Extremisten – und benennen sie beim Namen. Schafft der Schock über die Gräueltaten auch eine Grundlage für eine gemeinsamen Anti-Terror-Politik mit den Palästinensern?

Israels Staatspräsident Reuven Rivlin fand deutliche Worte am 1. August bei einer Demonstration am Zionsplatz in Jerusalem: »Flammen haben unseren Staat verschlungen. Flammen der Gewalt, des Hasses, Flammen von falschen, verzerrten und verdrehten Glaubensvorstellungen. Flammen, die Blutvergießen im Namen der Torah, im Namen des Gesetzes, im Namen der Moral und im Namen der Liebe zum Land Israel erlauben.«

 

Die Rede ist von den Terroranschlägen extremistischer Juden, die Israel Ende Juli auf brutale Arte und Weise heimsuchte. Als am 30. Juli gegen 19 Uhr der ultraorthodoxe Jude Yishai Schlissel auf sechs Teilnehmer der »Gay Pride Parade« in Jerusalem einsticht, demonstrieren rund 5.000 Menschen friedlich fernab der ultraorthodoxen Viertel der Stadt für die Gleichstellung von Homosexuellen in Israel. Schissel, so wird schnell bekannt, hat bereits vor zehn Jahren auf der Parade Menschen niedergestochen. Vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen, schritt er geradewegs zur nächsten Tat.

 

Und er ist in seinen Augen »erfolgreich«. Shira Banki, ein 16-jähriges Mädchen aus Jerusalem, erliegt ihren schweren Verletzungen und stirbt wenige Tage nach dem Angriff. Fünf weitere Demonstranten werden teils schwer verletzt. Die Debatte in Israels Gesellschaft dreht sich nun vor allem um die Frage: Hätte diese Tat verhindert werden können? Wieso konnte sich Yishai Schissel ohne Weiteres Zugang zur Parade verschaffen und wahllos auf seine Mitmenschen einstechen? Wieso wurde er nicht hinreichend überwacht?

 

Schissel verweigert einen Verteidiger im drohenden Prozess. Er erkenne das Gericht und seine Rechtsprechung ohnehin nicht an, so der religiöse Fanatiker. Allabendliche Mahnwachen am Zionsplatz im Zentrum Jerusalems verbinden die Menschen, die es nicht fassen können. Sie trauern gemeinsam um Shira Banki und verabscheuen gemeinsam die Gräueltaten von Yishai Schissel.

 

Doch nicht nur sie befinden sich im Schockzustand. Auch auf der anderen Seite der Trennmauer ist man zutiefst betroffen, verzweifelt, hilflos. Nur einen Tag nach der »Gay Pride Parade« verüben extremistische jüdische Siedler einen Brandanschlag auf das Wohnhaus einer palästinensischen Familie in Duma und hinterlassen ein Graffiti in Hebräischer Schrift mit dem Wort »Rache« und einem Davidstern. Das Palästinenserdorf liegt inmitten des Westjordanlandes, südlich der arabischen Stadt Nablus und nur wenige Kilometer entfernt von der jüdischen Siedlung Ma’ale Efraim, in dessen Richtung die Täter zunächst flüchten.

 

Bei dem Anschlag kommt der nur 18 Monate alte Ali Saad Dawabsha ums Leben. Sein Vater Saad Dawabsha erliegt nur wenig später seinen Verletzungen in einem israelischen Krankenhaus in Tel HaShomer. Drei Tote in nur 24 Stunden hat das Land aufgrund von Terrorattacken, die von jüdischen Extremisten verübt wurden, zu verzeichnen. Und diese Attacken sind nur der Gipfel des Eisbergs. Radikale Siedler im Westjordanland errichten seit Jahren illegale Außenposten und vertreiben die Bauern, deren Felder sie zum Zwecke des Siedlungsbaus beschlagnahmen.

 

Olivenbäume, die die Existenzgrundlage der palästinensischen Farmer darstellen: abgehackt, niedergebrannt. Im Namen Gottes, im Namen der Torah. Unzählige Versuche von Nichtregierungsorganisationen, den Palästinensern zu ihrem Recht zu verhelfen. Entscheidungen des Höchsten Gerichts nach langen Jahren des Verhandelns – sie sind am Boden nichts wert. Dort, wo radikale Siedler das Kommando übernehmen und die Armee mit Schlichtungsversuchen scheitert. Dort wächst und gedeiht er fernab von Jerusalem, der jüdische Terror.

 

Israel hat nicht genug getan im Kampf gegen den jüdischen Terror

 

Reuven Rivlin hat zu Recht auf diese Gefahren hingewiesen und zugleich eingeräumt, dass Israel bislang nicht genug getan hat im Kampf gegen jüdischen Terror. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu gibt außerdem gegenüber Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu verstehen: »Wir müssen gemeinsam gegen den Terror kämpfen, egal von welcher Seite er kommt.« Bislang wurden ähnliche Anschläge auf palästinensische Wohngebäude als sogenannte »Preisschild«-Attacken der Siedler bezeichnet – als Racheakte Einzelner.

 

Sie wurden damit von Israel offiziell nicht als Terroranschläge gewertet und entsprechende jüdische Attentäter konnten bislang nicht in Verwaltungshaft genommen werden, ohne zunächst einem Richter vorgeführt beziehungsweise einer konkreten Tat angeklagt zu werden. Die gängige Praxis gegenüber palästinensischen Terroristen wurde nun im Falle von Mordechai Meir, einem der mutmaßlichen Attentäter des Terroranschlags in Duma, erstmals auch auf jüdische Extremisten angewandt.

 

Damit setzt Israels Verteidigungsminister Moshe Ya’alon ein wichtiges Signal, auch in Richtung der Palästinenser: Jüdischer Terror aus der eigenen Mitte der Gesellschaft wird anerkannt und mit gleicher Härte verfolgt. Dass das Terrorismusproblem in Israel und Palästina bei Weitem keine Einbahnstraße ist, zeigt der jüngste Anschlag auf den 26 Jahre alten Israeli Yehuda Ben Moyal, der einer Messerattacke des Palästinensers Anas Taha am 9. August zum Opfer fiel.

 

An einer Tankstelle der Straße 443 im Westjordanland wurde der junge Israeli durch den Palästinenser von hinten überrascht und mit einem Messer attackiert. Er selbst wurde mit leichten Verletzungen in ein Jerusalemer Krankenhaus gebracht. Sein Angreifer wurde an Ort und Stelle von Soldaten der IDF getötet. Für Mahmud Abbas, Benjamin Netanjahu und Reuven Rivlin kann dies nur eines bedeuten: Der Kampf gegen den Terror kann nur gemeinsam und nur auf beiden Seiten der Trennmauer geführt werden.

Von: 
Johanna Sand

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