Der Islamismus hat dem Nahen Osten in hundert Jahren terroristische Gewalt gebracht, aber nicht mehr. Ein neues Kalifat braucht niemand – am wenigsten die Muslime, meint Udo Steinbach.
Am 12. August 1925 tagte das Gremium der höchsten islamischen Gelehrten der Azhar- Universität in Kairo. Es ging um die Zukunft eines der Ihren: Scheich Ali Abd al-Raziq. Er hatte wenige Monate zuvor eine Schrift mit dem Titel »Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft« veröffentlicht. Der Untertitel verdeutlichte, worum es ging: »Eine Studie zum Kalifat und zur Regierung im Islam«. Abd al-Raziqs Botschaft war, dass keine der Grundlagen des Islams, auch nicht der Koran oder die Prophetenüberlieferung, die Herrschaft eines Kalifen zwingend erfordere.
Nach Anhörung des Autors beschloss der Rat der Azhariten, ihn aus dem Lehrkörper zu entlassen. Dass seine These die Trennung von Staat und Religion implizierte, war für sie unakzeptabel. Erst Ende der 1940er Jahre wurde Abd al-Raziq teilweise rehabilitiert; eine Professur an der Azhar erhielt er nicht mehr. Die Ausrufung eines Kalifats durch den Anführer der Terrorgruppe »Islamischer Staat« ruft Ali Abd al-Raziq wieder ins Gedächtnis. Nicht so sehr im Zusammenhang mit dem Tatbestand als solchem; sondern vielmehr, weil die weiterreichenden Betrachtungen des mutigen ägyptischen Gelehrten bestätigt werden: Hatte er doch ausgeführt, dass das Kalifat den Muslimen und dem Islam auch Unheil gebracht habe; mithin werde die Religion durch die Trennung von den Angelegenheiten des Staates vor politischem Missbrauch geschützt.
Die in den letzten Jahren im Namen der islamischen Religion begangenen Schandtaten sollten das Fanal sein, die von Ali Abd al-Raziq zeitweilig angestoßene Diskussion wieder aufzunehmen. Und nicht nur das – politische Konsequenzen müssen gezogen werden. Das hatte die nationale Bewegung in der jungen Republik Türkei getan, als das Parlament in Ankara im März 1924 unter Führung Mustafa Kemals (seit 1934: Atatürk) die Abschaffung des Kalifats beschloss. Vier Jahre später gründete der ägyptische Volksschullehrer Hasan al-Banna in Ismailiya die Muslimbruderschaft, die als revolutionäre Bewegung Islam und Staat wieder zusammenführen sollte.
Spätestens in den 1990er Jahren, mit dem Bürgerkrieg in Algerien, wurde unübersehbar, dass er die Büchse der Pandora geöffnet hatte. Sayyid Qutb, ein anderer Ägypter, der erst spät zur Muslimbruderschaft gefunden hatte und 1966 hingerichtet wurde, hatte den Islam zu einer Ideologie umgedeutet, die – zumindest in der Interpretation seiner geistigen Gefolgschaft – auch die Gewalt und das Töten zu einer legitimen Strategie im Kampf gegen »die Heiden« macht.
Nach der Revolution in Iran (die keine islamische, sondern eine Revolution aller Iraner war) wurde 1979 das Experiment eines – schiitischen – Gottesstaates begonnen, der zugleich »Republik« und »islamisch« sein sollte. Dem »Revolutionsführer«, Ayatollah Khomeini, ging es um die politische und geistige Selbstbehauptung gegenüber einem Westen, dessen Verhalten die Iraner seit den 1950er Jahren als imperialistische Vergewaltigung wahrgenommen hatten.
»Wir glauben nicht, dass alle Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens von religiösen Lehren abgeleitet werden sollen«
Das Experiment ist nur teilweise gelungen: Während Selbstbehauptung und Eigenständigkeit wirkungsvoll praktiziert werden, schränkt die religiöse Grundlage des Systems Pluralität, Bürgerrechte und Rechtstaatlichkeit nachhaltig ein. Wohin wird sich Iran entwickeln? Es klingt fast nach Ali Abd al-Raziq, wenn Ayatollah Husain Ghaemmaghami, zeitweilig Imam an der Hamburger Ali-Moschee schreibt: »Wir glauben nicht, dass alle Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens von religiösen Lehren abgeleitet werden sollen ... die Religion hat im Hinblick auf viele Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens keine besondere Sichtweise.«
Die islamistische Ideologie hat zu diffuser terroristischer Gewalt geführt, aber nicht zu Wandel. Dieser kam schließlich von anderen: den Bürger und Bürgerinnen, namentlich den jungen Menschen, selbst. In den Auf- und Umbrüchen der arabischen Gesellschaften war von religiösen Eiferern wenig zu sehen. Erst im Nachhinein versuchen sie – auf je unterschiedliche Weise – den Prozess des Wandels für sich zu reklamieren.
Eine zukunftsfähige Antwort darauf kam aus Tunesien: Zwar erklärt Paragraph eins der im Januar verabschiedeten Verfassung den Islam zur Staatsreligion; Paragraph sechs aber bestätigt den Schutz des Staates für die Freiheit des Glaubens und Gewissens. Ali Abd al-Raziq würde sich bestätigt fühlen: Die Mörderbande vom Kalifat des »Islamischen Staats« hat den Islam beschmutzt. Es gibt bessere Staatsformen für Muslime als das Kalifat. Die Tunesier haben gezeigt, wo sie liegen.
Prof. Dr. Udo Steinbach, 1976 bis 2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, leitet seit 2012 das Nahost/Nordafrika-Programm der Humboldt-Viadrina School of Governance.