Rezan Zuğurlı ist die jüngste Bürgermeisterin der Türkei – und wurde kürzlich zu vier Jahren Haft verurteilt. Im Interview spricht sie über die Normalität von Gefängnisstrafen und die Illusion des türkisch-kurdischen Friedensprozesses.
zenith: Frau Zuğurlı, Sie sind nicht nur die jüngste Bürgermeisterin des Landes. Sie haben auch über ein Jahr im Gefängnis verbracht – und wurden nun erneut verurteilt. Ist so etwas normal im kurdischen Teil der Türkei?
Rezan Zuğurlı: Natürlich ist es nicht normal, aber leider sieht es so aus, als seien Verhaftungen und Gefängnisstrafen das Schicksal des kurdischen Volkes. Im Gefängnis waren Mädchen mit 17, 18 Jahren; eingesperrt, weil sie auf Demonstrationen waren. Das ist die Politik der Türkei: konstante Repression. Gehörst du zur Opposition, stehst du ständig mit einem Bein im Gefängnis.
Was sind Ihre Ziele als Bürgermeisterin?
Diese Region hat viel Leid und Gewalt erlebt, beginnend 1925 mit der Ermordung von Scheich Said. Lice wurde 1993 und 1994 zwei Mal von der Armee niedergebrannt. Und 1975 gab es ein verheerendes Erdbeben.
Das war damals. Was ist heute?
Bis heute leben viele in Containerhäusern aus der Zeit nach dem Erdbeben. Als der damalige Ministerpräsident Süleyman Demirel 1975 hierherkam, sagte er zu den Menschen, die gegen ihre Lebensbedingungen protestierten: Ihr werdet bis ans Ende eures Lebens in diesen Containern hausen. Seit 1975 werden die Menschen bestraft. Auch wegen der politischen Bedeutung Lices.
Was macht die Stadt denn so wichtig? Lice hat gerade einmal 10.000 Einwohner.
1978 fand hier der Gründungskongress der PKK statt. Das ist der Grund für die vielen Repressionen; Ende der 1990er Jahre stand hier kein Stein mehr auf dem anderen. Wir leben unter wirklich schlechten Umständen, es gibt keine Entwicklung, keine sozialen Dienste für Frauen. Unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Aber ich will versuchen, Investitionsanreize zu schaffen.
Kurdistan erlebt unruhige Zeiten. Auch Lice: Im Sommer gab es Proteste gegen eine geplante Armeebasis außerhalb der Stadt. Zerfällt der Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK gerade?
Das sollten Sie vielleicht besser unsere Politiker fragen ...
Sie sind doch Politikerin.
Die Leute in Lice, egal ob sie sieben Jahre alt sind oder 70, lehnen die Armeebasis ab. Und zu Recht, denn hinter solchen Maßnahmen steckt eine Strategie: Sie sollen die Gesellschaft spalten.
Was ist mit der Schule für kurdischsprachigen Unterricht, die in Lice eröffnet werden soll? Leute aus dem Ort haben kürzlich einen Abriss des Gebäudes durch die Polizei verhindert.
Aus dem Ministerium hieß es nun, die Schule könne stehen bleiben. Dennoch bewachen Leute aus Lice das Gebäude, um sicherzustellen, dass es nicht angerührt wird. Sie selbst waren es übrigens auch, die die Schule gebaut haben.
Rezan Zuğurlı
gewann im März 2014 die Wahl zum Stadtoberhaupt von Lice, einer Kleinstadt bei Diyarbakir im PKK-Kernland. Die 1988 geborene Politikerin der kurdischen »Demokratischen Regionenpartei« (DBP) verbrachte 2012 bis 2013 13 Monate im Gefängnis wegen des Vorwurfs, bei einer Demonstration Steine geworfen zu haben. Kurz nach ihrer Wahl wurde sie erneut verurteilt: zu vier Jahren Haft.
Heißt das, dass man nicht auf den Friedensprozess vertrauen darf, sondern die Dinge in die eigene Hand nehmen muss?
Die Regierung sagt, die Menschen könnten ihre Kinder in Privatschulen auf Kurdisch unterrichten lassen. Aber welcher Kurde kann sich schon eine Privatschule leisten? Also haben die Leute in Lice gesagt: Dann machen wir eben unsere eigene Schule auf.
Frau Zuğurlı, gibt es überhaupt noch einen Friedensprozess?
Glauben Sie mir, es sieht nur noch so aus.
Was planen Sie für Ihre politische Zukunft?
Wenn meine Amtszeit vorbei ist, werde ich weiter der Gesellschaft dienen. Ich träume nicht von der großen Politik. Um offen zu sein: Ich hatte nie geplant, Bürgermeisterin zu werden.
Apropos: Nachdem man Sie 2013 aus Mangel an Beweisen freigelassen hat, wurden Sie im April im gleichen Verfahren erneut verurteilt. Vermuten Sie einen Zusammenhang zu Ihrer Wahl zur Bürgermeisterin?
Ja, da gibt es durchaus einen Zusammenhang, glaube ich. Gegen das Urteil habe ich Berufung eingelegt.
Vier Jahre und zwei Monate – ist das eigentlich ein normales Strafmaß für die Teilnahme an einer Demonstration?
In erster Instanz war ich zu siebeneinhalb Jahren verurteilt worden. Nun zu vier Jahren und zwei Monaten. Und das ist immer noch vergleichsweise wenig. Andere bekommen zwölf Jahre für so was.