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Interview mit Burhan Ghalioun

»Ich bin Revolutionär und kein Politiker«

Interview

Burhan Ghalioun sprach mit zenith über seinen Rücktritt als Präsident des Syrischen Nationalrats, die Spannungen innerhalb der syrischen Opposition und warum der internationale Kontext eine Lösung der syrischen Krise erschwert.

zenith: Herr Ghalioun, Sie wurden im Mai für eine dritte Amtszeit von drei Monaten wiedergewählt. Dennoch sind Sie als Präsident des Syrischen Nationalrates zurückgetreten. Warum?

Burhan Ghalioun: Ich bin zurückgetreten, weil ich gesehen habe, dass viele der jungen Revolutionäre Zweifel an meiner Arbeit hatten. Ich wollte mich wieder an die Basis annähern. Ich glaube, dass die Präsidentschaft mich ein wenig von den Menschen in Syrien abgeschnitten hat.

 

Das war auch die Kritik der lokalen Koordinationskomitees, lose organisierter Oppositionsgruppen, die inner- und außerhalb Syrien präsent sind. Sie hätten nicht wirklich die Belange der Straße vertreten.

Ich hatte noch nicht mal das Communiqué der lokalen Komitees gelesen, bevor ich zurückgetreten bin. Ich hatte bei meinem Schritt weder die lokalen Komitees noch das Exekutivbüro im Kopf. Deshalb habe ich meinen Rücktritt auch nicht zuerst vor dem Exekutivbüro bekannt gegeben sondern im Fernsehen, um mich direkt an die Menschen in Syrien zu wenden. Ich wurde von den jungen Leuten dazu gedrängt, die Präsidentschaft anzunehmen. Nun habe ich ihrem Druck ein weiteres Mal stattgegeben und bin zurückgetreten.

 

Die Präsidentschaftswahlen haben aber auch intern für viel Spannung gesorgt.

Die Präsidentschaft ist zu einem Streitpunkt zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des Nationalrats geworden. Wir haben sehr viel Zeit darauf verwendet, um über die Position und das Amt des Präsidenten zu streiten. Ich wollte nicht in diesem Zustand verharren. Mein Rücktritt soll auch helfen, das Klima innerhalb der Opposition zu verbessern.


Burhan Ghalioun,67,

ist Professor für Soziologie und Direktor des Centre d'Etudes sur l'Orient Contemporain an der Universität Paris Sorbonne III. Vom 29. August 2011 bis 10. Juni 2012 war er Präsident des Syrischen Nationalrats. Ghalioun leitete mehrere Jahre das »Syrische Sozial- und Kulturforum«, eine Oppositionsgruppe, die von Exil-Syrern unterstützt wird.

 

 
Sie waren in einer schwierigen Situation, weil der Nationalrat sehr zersplittert ist.

Psychologisch war ich in einer schwierigen Situation, das ist richtig. Politisch jedoch nicht. Ich habe die Wahl zum dritten Mal gewonnen – die Wahl war legitim und anerkannt. Aber der psychologische Druck war natürlich trotzdem sehr groß, weil ich die Erwartungen der Basis nicht erfüllt habe. Jetzt werde ich die Arbeit trotzdem weiter fortsetzen, zwar nicht als Präsident aber als ein Aktivist unter anderen. Ich bin Revolutionär und kein Politiker.

 

Dennoch kann man nicht verneinen, dass die syrische Opposition sehr zersplittert ist.

Man muss zugeben, dass es einige Konflikte über die Präsidentschaft des Nationalrats gab. Aber was die politischen Strategien angeht, die groben Linien, wie man politisch vorgehen soll, darüber gibt es keine Uneinigkeit. Die Differenzen sind lediglich im Status des Präsidenten begründet. Vor allem über die Amtszeit wurde viel gestritten. Die Mehrheit des Generalsekretariats hat sich dafür ausgesprochen, die Amtszeit, die momentan drei Monate beträgt, zu verlängern. Auf der anderen Seit hatte vor allem die »Damaskus-Deklaration« gefordert, die dreimonatige Amtszeit beizubehalten.

 

Man hört immer wieder, dass der Nationalrat von Islamisten dominiert wird. Ihnen wurde vorgeworfen, den Islamisten zu nahe zu stehen.

Durch meinen Rücktritt wollte ich auch diese Gerüchte beenden – ein ungerechter Vorwurf, welcher von der Seite, die die Wahl verloren hat, genutzt wurde, um meine Wiederwahl zu delegitimieren.

 

... Sie meinen die Gruppe um den Christen George Sabra, der bei den Präsidentschaftswahlen im Mai auf dem zweiten Platz landete...

Die andere Seite wollte lediglich ihre Niederlage überspielen. Ich bin unabhängig und bleibe es auch. Die Wahrheit ist, dass niemand die notwendige Zweidrittelmehrheit des Generalsekretariats, die für die Wahl zum Präsidenten notwenig ist, ohne die Stimmen der Islamisten gewinnen kann. Ohne die Islamisten gibt es schlicht und einfach keinen Präsidenten.

 

Der Friedensplan von Kofi Annan ist gescheitert. Die etwa 300 UN-Beobachter, die gerade in Syrien stationiert sind, geraten selbst immer wieder unter Beschuss. Denken Sie, dass die Beobachtermission Syrien verlassen sollte?

Ich denke nicht, dass die Uno-Beobachter Syrien verlassen sollten oder werden. Niemand will Syrien im politischen Vakuum lassen.

 

»Es gibt keine Alternative zum Plan von Kofi Annan«

 

Aber täuscht die andauernde Präsenz der UN-Beobachter nicht darüber hinweg, dass der so genannte Friedensplan eine Illusion ist und die Mission in Wirklichkeit längst gescheitert ist?

Es gibt keine Alternative. Es gibt nur den Plan von Kofi Annan. Man muss diese Mission stärken. Es ist notwendig einen neuen Aktionsrahmen zu schaffen, um den Plan endlich umzusetzen. Man kann den Plan noch retten. Vor allem muss die Zahl der Beobachter aufgestockt und deren Sicherheit besser gewährleistet werden. Man könnte Blauhelmsoldaten nach Syrien schicken, um die Beobachtermission vor Angriffen zu schützen. Natürlich wünschen wir uns auch, dass mehr Unterstützung von den Mitgliedern des Sicherheitsrates für den Friedensplan kommt. Man lässt uns in der Luft hängen.

 

Sie sprechen sich nach anfänglichem Zögern nun offen für die Bewaffnung der Freien Syrischen Armee aus. Die internationale Gemeinschaft reagierte darauf bisher eher ablehnend.

Das stimmt. Natürlich zögert die internationale Gemeinschaft noch. Allerdings läuft es immer mehr auf zwei Alternativen hinaus: entweder man greift selbst militärisch ein, um das Massaker zu beenden oder man gibt dem Volk die Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen.

 

Katar und Saudi-Arabien haben sich schon früh dafür ausgesprochen, die Freie Syrische Armee mit Waffen zu versorgen. Haben diese beiden Länder den Westen als wichtigsten Partner im Kampf gegen das Assad-Regime ersetzt?

Ich denke nicht, dass die Golfstaaten diese Vorschläge unterbreiten, ohne sich vorher mit ihren westlichen Partnern abzustimmen. Sie suchen stets den Konsens mit dem Westen. Man muss auch sagen, dass wir bisher wenig Fortschritt bei der Umsetzung dieser Vorschläge gesehen haben. Die Waffen, die geliefert wurden, sind leichte Waffen, die nicht ausreichen, um sich gegen das hochgerüstete Regime zur Wehr zu setzen.

 

Man hat den Eindruck, dass die militärischen Engpässe der Freien Syrischen Armee die Beziehung mit dem Nationalrat zusätzlich belasten. Sie sorgen als Nationalrat weder für Waffenlieferungen noch politische Lösungen, was ihnen übel genommen wird. Im März kündigte der Nationalrat an, dass er ein Büro gegründet hatte, um die verschiedenen bewaffneten Gruppen besser zu koordinieren. Daraufhin erklärte die Freie Syrische Armee, dass sie das Büro nicht anerkennen werde. Wie angespannt ist das Verhältnis zwischen der Freien Syrischen Armee und dem Nationalrat wirklich?

Es gibt Schwierigkeiten, eine Struktur ins Leben zu rufen, die beide Organisationsstrukturen effektiver verbindet; das ist richtig. Es gibt jedoch Austausch und Kooperation. Wir sind nicht voneinander abgeschnitten, aber wir haben nicht das Kooperationsniveau erreicht, das wir wollen. Die meisten Probleme sind technischer Art. Die Offiziere der Freien Syrischen Armee sind in einem Camp im Süden der Türkei stationiert und nicht in Istanbul. Der Kontakt mit ihnen ist deshalb etwas schwierig.

 

»Das Problem ist die Uneinigkeit der internationalen Gemeinschaft«

 

Im Gegensatz zum libyschen Nationalen Übergangsrat, der sehr schnell von der internationalen Gemeinschaft als einzige legitime Vertretung der Libyer anerkannt wurde, wurde der Syrische Nationalrat nicht anerkannt. Ist die syrische Opposition zu zersplittert, um als einzige Vertretung aller Syrer anerkannt zu werden?

Die syrische Opposition ist nicht weniger oder mehr zersplittert als die libysche. Der Unterschied liegt woanders. Der libysche Nationalrat wurde schnell anerkannt, weil es ein politisches Projekt gab, in Libyen zu intervenieren. Die Situation in Syrien verhält sich dagegen völlig anders. Alle – die USA eingeschlossen – betonen immer wieder, dass ihnen nicht an einer militärischen Intervention gelegen ist und aus diesem Grund wollen sie den Syrischen Nationalrat nicht anerkennen. Man will nicht alle Brücken zum syrischen Regime abbrechen, weil man selbst kein politisches Projekt hat, dieses Regime zu stürzen. Man wartet deshalb einfach ab, ob die Opposition es schafft, dass Regime zu stürzen oder nicht.

 

Die internationale Gemeinschaft spekuliert also darauf, dass Assad eventuell an der Macht bleibt und hält sich eine Hintertür offen. Die vermeintliche Zersplitterung der syrischen Opposition wird als Vorwand genutzt, keine militärischen Schritte einzuleiten?

Richtig. Es ist ein Alibi zu sagen, dass die syrische Opposition schwach und zersplittert ist. Keine Oppositionsbewegung geht aus einem halben Jahrhundert der Diktatur stark hervor. Dennoch denke ich, dass wir uns schnell organisiert haben angesichts der schwierigen Situation. Das Problem ist nicht die Uneinigkeit innerhalb der syrischen Opposition sondern die Uneinigkeit innerhalb der internationalen Gemeinschaft selbst, die nicht in der Lage ist, eine geschlossene Entscheidung zu treffen.

 

Vor allem Russland und China boykottieren bisher alle Versuche im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zu erlassen. Russland hat gerade versucht, Waffen per Schiff nach Syrien zu liefern. Die Lieferung wurde von Großbritannien jedoch abgefangen. Russland hat Syrien lange genutzt, um gegen den Westen zu opponieren. Denken Sie, dass die Russen ihre Position ändern werden?

Wir haben die Russen natürlich aufgefordert, keine Waffen nach Syrien zu liefern. Es ist notwendig, dass die internationale Gemeinschaft ähnlichen Druck ausübt. Die Russen lehnen den Dialog nicht komplett ab. Sie wissen, dass falls sie Syrien bis zum Ende unterstützen und das Regime fällt, sie ihren Einfluss in der gesamten Region verlieren werden, weil nicht nur die Syrer Russland als Feind sehen werden. Ich denke, dass das Treffen zwischen Barack Obama und Wladimir Putin etwas gebracht hat.

 

»Die Türkei will nicht alleine agieren«

 

Die Türkei hat anfangs eine sehr aktive Rolle gespielt. Es wurde viel darüber gesprochen, dass eine Flugverbotszone oder ein humanitärer Korridor im Norden Syriens eingerichtet werden könnte. In letzter Zeit hört man wenig von türkischer Seite.

Es stimmt, dass die Türkei anfangs öffentlich größere Unterstützung für die syrische Opposition zeigte. Das hat sich intern nicht geändert, nur gibt es heute eine stärkere Konsultation zwischen der Türkei und der Gruppe der Freunde Syriens. Die Türkei will nicht alleine agieren.

 

Der neue Präsident des Syrischen Nationalrats, Abdulbaset Sieda, ist Kurde. Wie signifikant ist das?

Gar nicht. Er wurde nicht gewählt, weil er Kurde ist. Er wurde gewählt, weil er Syrer ist. Die Botschaft richtet sich nicht an Kurden sondern an Syrer. Die Wahl eines Präsidenten hängt nicht von seiner Herkunft ab.

 

Aber es liegt doch auf der Hand, dass man mit dieser Wahl Minderheiten aufrufen will, sich der syrischen Opposition vermehrt anzuschließen.

Viele Kurden unterstützen bereits den Syrischen Nationalrat, inklusive des kurdischen Nationalrats. Das ist also nicht wirklich notwendig.

 

Dennoch gab es gerade von kurdischer Seite immer wieder Forderungen nach lokaler Autonomie, welche an das irakische Model erinnern.

Es gab viele Diskussionen mit den Kurden über dieses Thema, aber ich denke, dass heute alle Fraktionen sich für die nationale Einheit und gegen lokale Autonomie aussprechen. Eine mögliche Dezentralisierung der Verwaltung muss sich auf alle Regionen gleichermaßen beziehen – unabhängig von der Präsenz von Minderheiten. Eine echte Demokratie erkennt zwar kulturelle Unterschiede an, gibt aber allen Bürgern die gleichen Rechte.

 

Der neue Präsident wirkt in vieler Hinsicht wie Ihr Ebenbild. Er verfügt über viele Eigenschaften, die an Ihnen kritisiert wurden. Er ist ein Intellektueller, ein Akademiker ohne politische Erfahrung, der seit langem im Exil lebt und damit isoliert von der syrischen Basis wirkt. Warum wird er ein besserer Präsident des Nationalrats sein als Sie?

Er wurde gewählt, weil die großen Tendenzen innerhalb des Nationalrates…

 

... die Säkularen und die Islamisten...

… sich nicht auf einen ihrer Kandidaten einigen konnten und deshalb entschied man sich für einen Unabhängigen. Er ist ein Unabhängiger wie ich, das ist die Hauptähnlichkeit zwischen uns. Es ging vor allem darum, jemanden zu finden, der von allen akzeptiert wird.

 

Welche Rolle werden Sie in Zukunft spielen?

Ich bin Mitglied des Exekutivbüros und ich werde eventuell das Politbüro leiten, welches eine Einheit der Reflexion sein soll, wo über strategischen Entscheidungen nachgedacht wird. Ich denke, dass das den Nationalrat und den Prozess allgemein wieder dynamisieren könnte.

 

Um sich vollständig der Oppositionsarbeit zu widmen, haben Sie sich von Ihren Pflichten als Professor vorübergehend freistellen lassen. Welche Welt bevorzugen Sie, die der Universität oder die der Politik?

Es ist offensichtlich, dass das Leben an der Universität wesentlich einfacher und angenehmer ist, aber die politische Welt ist viel mitreißender und dynamischer. Aber ich sehe mich selbst nicht als Politiker. Ich bin ein Bürger, der sich für sein Land einsetzt wie andere Bürger auch. Das ist eine Pflicht für mich, eine persönliche Mission. Man kann die Menschen nicht einfach sterben lassen.

Von: 
Dörthe Engelcke

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