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Gezi-Proteste und Jugend in der Türkei

»Türkei, du bist so schön, wenn du wütend bist!«

Kommentar

Die Demonstrationen rund um den Gezi-Park in Istanbul haben bei vielen jungen Türken einen Bewusstseinswandel ausgelöst, der das Land nachhaltig verändern könnte, meint zenith-Mitherausgeberin Yasemin Ergin.

Es brennt höllisch in den Augen, nimmt einem die Luft zum Atmen, löst Reizhusten, Kopfschmerz und Brechreiz aus. Das Tränengas, das die Polizei seit Beginn des türkischen Protestsommers immer wieder gegen Demonstranten einsetzte, hat nach Ansicht einiger Betroffener aber auch positive Nebenwirkungen: »Sie wollten uns mit dem Gas ruhigstellen, doch stattdessen hat es uns erst richtig wach gemacht« – so und so ähnlich äußern sich viele türkische Aktivisten in diesen Tagen.

 

Es gehört inzwischen zu den Binsenweisheiten rund um die Gezi-Park-Bewegung, dass die unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen eine zunächst kleine Gruppe friedlicher Demonstranten den Protest erst so richtig entfachte und dass es ziemlich schnell um viel mehr ging, als nur um die Zerstörung einer der letzten Grünflächen im Zentrum Istanbuls. Der Schock über Tränengasattacken, Wasserwerfer und Polizeiknüppel gegen ein paar Umweltschützer löste das Gegenteil von der erhofften Einschüchterung aus.

 

Je härter die Sicherheitskräfte durchgriffen, desto mehr Trotz, Entschlossenheit und Widerstandswille entwickelten immer mehr Menschen in Istanbul, Ankara und anderen Städten des Landes. »Türkei, du bist so schön, wenn du wütend bist«, twitterte der promintente Karikaturist und Mitbegründer der Satirezeitschrift Penguen, Metin Üstündag, Anfang Juni begeistert und traf damit ziemlich genau den Geist dieser plötzlich über das Land rollenden Protestbewegung.

 

»Unsere Kinder haben uns eines Besseren belehrt«

 

Auch wenn der Gezi-Park sich ziemlich schnell zu einem Sammelbecken für Gruppierungen unterschiedlichster politischer Couleur entwickelte, so speiste sich das Gros der neuen Widerstandsbewegung doch aus einer bislang als verwöhnt und unpolitisch verunglimpften Generation türkischer Jugendlicher. Viele der seit Ende Mai unermüdlich den Widerstand organisierenden jungen Menschen haben Eltern, die als junge Erwachsene die Folgen des Militärputsches von 1980 erlebt haben.

 

Der Staatsstreich, mit dem die Generäle damals bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen linken und rechten Gruppen beendeten, läutete eine nie dagewesene Welle von Repressionen ein: Rund 650.000 Festnahmen, 50 Hinrichtungen, 171 Foltertote, Zehntausende, die ausgebürgert und zur Flucht ins Ausland gezwungen wurden, zahllose Menschen, die einfach »verschwanden« – der Terror dieser Jahre schlug tiefe gesellschaftliche Wunden, die bis heute nachwirken und eine ganze Elterngeneration so nachhaltig einschüchterten, dass sie ihre Kinder unpolitisch erzogen, um diese »von Schwierigkeiten fernzuhalten«.

 

In den Diskussionsforen im Gezi-Park waren es deshalb auch immer wieder die Älteren, die sich zu Wort meldeten, um ihre Unterstützung der Proteste zum Ausdruck zu bringen: »Wir haben unsere Kinder zum Stillhalten erzogen, aus Sorge, sie könnten das Selbe durchleben wie wir. Doch jetzt haben sie uns eines Besseren belehrt. Wir sollten stolz auf sie sein«, fasste es ein Mann um die 50 zusammen, am Tag vor der gewaltsamen Räumung des Parks.

 

Das Bemerkenswerteste an der neuen, größtenteils der wohlhabenden urbanen Mittelschicht entstammenden Generation von Protestierenden ist aber nicht, dass sie sich plötzlich trauen, für ihre individuellen Freiheiten zu kämpfen, sondern viel mehr, wie sehr ihnen die Erfahrungen der letzten Wochen die Augen über das seit Jahren allgegenwärtige Unrecht gegen die Minderheiten im Land geöffnet haben.

 

Ein neues Verständnis gegenseitiger Empathie und Achtung

 

Grenzenlose Solidarität und Empathie, auch gegenüber Andersdenkenden, das ist es, was diese jungen Menschen gelernt haben in den Wochen, in denen sie den Gezi-Park besetzt hielten, Demokratie übten und Utopien für eine bessere Türkei und eine bessere Welt entwarfen. Es ist dieses neue Gefühl von gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Achtung, das sie sich nicht mehr nehmen lassen wollen.

 

Das ist der Eindruck, den man bekommt, wenn man den seit der Räumung des Gezi-Parks in alternativen Parks rund um die Stadt stattfindenden Diskussionsforen lauscht, wenn man die rege Beteiligung unterschiedlichster Gruppen an tagtäglich stattfindenden Solidaritätsveranstaltungen für Angehörige jeweils anderer Gruppen betrachtet und wenn man die unzähligen Diskussionen über die sozialen Netzwerke verfolgt.

 

Die Wut über die fast komplett gleichgeschalteten türkischen Mainstream-Medien etwa, die erst tagelang gar nicht über die Proteste berichteten und sich dann auf die Seite der Regierung schlugen, mischte sich bei vielen mit Scham darüber, den selben Medien so lange blind geglaubt zu haben. Nach den ersten Polizeiangriffen auf Demonstrierende überschlugen sich bei Facebook und Twitter die Stimmen derer, die sich für die eigene bisherige Ignoranz entschuldigten:

 

»Von diesen Medien haben wir uns also seit Jahrzehnten das Kurdenproblem erklären lassen. Wir waren dumm, verzeiht uns, Freunde«, oder »Wenn sie uns jetzt so behandeln, was haben sie dann wohl erst unseren kurdischen Mitbürgern angetan? Wir sollten uns schämen, dass wir erst so spät aufgewacht sind«, lauteten etwa zwei von Tausenden Twittermeldungen zu dem Thema.

 

Ob die neue Solidarität Bestand haben wird, und ob die Protestbewegung, die trotz allem immer noch eine Minderheit darstellt, es schaffen wird, ihre Energie in eine politische Kraft zu bündeln, das vermag zu diesem Zeitpunkt niemand zu sagen. Sicher aber ist, dass dieser »Sommer des Erwachens« die türkische Gesellschaft zum Positiven verändert hat und dass die Demonstranten noch lange nicht im Sinn haben, zur Tagesordnung überzugehen.

 

Nachdem am 2. Juli, zum 20. Jahrestag des Massakers von Sivas, bei dem Islamisten Dutzende von Aleviten ermordet hatten, allein in Istanbul Zehntausende von Menschen zu einer Massenkundgebung zusammen kamen, brachte es hinterher ein Aktivist perfekt zum Ausdruck: »Es fühlt sich an, als hätten wir plötzlich gemerkt, dass es in diesem Land eigentlich jeden Tag von Neuem einen Grund gibt, um auf die Straße zu gehen.«

Von: 
Yasemin Ergin

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