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Erdoğan und die türkische Strategie gegen den IS

Seltsame Vergleiche

Essay

Der türkische Präsident Erdoğan hat keinen Plan, wie er mit dem »Islamischen Staat« umgehen soll. Stattdessen verspielt er politische Chancen – etwa in der Kurdenfrage.

In der Politik können Vergleiche Programm sein. So etwa das Diktum des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon nach dem 11. September 2001: Was dem einen Bin Laden, sei dem anderen Arafat. Sein Nachfolger Benjamin Netanjahu wiederholt die Gleichsetzung und passt sie den Zeitläuften an: Hamas und der »Islamische Staat« (IS) seien Äste desselben giftigen Baums, sagte Netanjahu im September vor den Vereinten Nationen.

 

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan übt sich in der Kunst des politischen Vergleichs: »Für uns«, so seine Feststellung am ersten Tag des Opferfestes, »ist die PKK das gleiche wie IS.« Das Strickmuster ist in allen drei Fällen dasselbe: Eine politische Herausforderung – die Palästinafrage hier, die Kurdenfrage dort – wird mit dem Stempel religiös motivierter Gewalt gebrandmarkt.

 

Die für sie kämpfenden Organisationen, Palästinenser wie Kurden, werden ins Abseits gestellt und sollen der Verdammung anheim fallen. Das Spiel mit den Kurden ist der bislang letzte Akt im Drama der Außenpolitik der Türkei der letzten Jahre. Mit den Umbrüchen im arabischen Raum scheiterte letztlich auch der Versuch, die Türkei als regionale Ordnungsmacht in Stellung zu bringen – obwohl es anfangs nach dem Gegenteil aussah.

 

Doch in Ägypten setzte Ankara allzu stark auf die Muslimbruderschaft, die schließlich von einem Militärregime entmachtet wurde. Und in Syrien weigerte sich die internationale Gemeinschaft, die türkischen Pläne zu unterstützen, Baschar al-Assads Regime durch eine militärische Intervention zu beenden. Das brachte Ankara in die Nähe der islamistischen Terrororganisationen.

 

Die hatten erheblichen Zulauf erhalten, als das Regime in Damaskus im August 2013 Chemiewaffen einsetzte und US-Präsident Barack Obama sich weigerte, das Überschreiten dieser »roten Linie« zu sanktionieren. Für Ankara schienen die Terrorgruppen in dreifacher Perspektive nützlich: Sie kämpften gegen Assad, gegen die syrischen Kurden, die ihre Autonomie auf syrischem Boden erklärt hatten, und sie kämpften gegen die Schiiten und damit den Einfluss Bagdads und insbesondere Teherans in der Region.

 

Einmal aus der Flasche, hat sich der Geist verselbstständigt und lässt sich nicht länger instrumentalisieren. Das wurde unübersehbar, als die Terrororganisation IS bei der Eroberung Mossuls im Juni 49 Türken als Geiseln nahm. Erst im September wurden sie freigelassen, im Zusammenhang mit einem Deal, in den die »Freie Syrische Armee« involviert war. Mittlerweile hatte sich der »Islamische Staat« daran gemacht, sein Gebiet auf Kosten der syrischen Kurden zu erweitern.

 

Damit aber steht Ankara erneut vor einem Dilemma: Wie soll es sich angesichts der Not der Kurden an der südlichen Grenze aufstellen? Als erste Maßnahme hat die Türkei Zehntausende von Flüchtlingen aufgenommen; wie schon seit Beginn der syrischen Krise zeigt sich aber: Mit der Aufnahme von Flüchtlingen allein lässt sich das Geschehen im Nachbarland nicht beeinflussen.

 

Eine erfolgreiche Abwehr von IS durch die Kurden würde jene Kräfte unter ihnen stärken, die der PKK in der Türkei nahestehen. Deren Gleichsetzung mit IS durch den türkischen Präsidenten lässt erkennen, wie tief er dieser Organisation misstraut. Die jüngsten Entwicklungen haben das Solidaritätsgefühl unter den Kurden der ganzen Region wachsen lassen.

 

Eine Eroberung der kurdischen Gebiete Syriens durch IS würde der Regierung in Ankara den Zorn einer überwältigenden Mehrheit unter den Kurden einbringen. Der zitierte Spruch Erdoğans macht das Maß an Konzeptlosigkeit in Ankara deutlich. Aus dem Gefängnis heraus fordert PKK-Chef Abdullah Öcalan eine aktive Unterstützung der syrischen Kurden an und droht, den Friedensprozess mit der Regierung in Ankara abzubrechen.

 

Sollte das eintreten, wäre die Türkei in der Kurdenfrage am Punkt Null; ein Wiederaufleben der bewaffneten Auseinandersetzung wäre die Folge. Neben dem gewalttätigen Islamismus ist die kurdische Frage eine der größten Herausforderungen für die Stabilität des Vorderen Orients. Die Unterschiede liegen im Umgang mit beiden: Die Terrorkampagne des »Islamischen Staates« muss militärisch gestoppt werden.

 

Die Kurdenfrage ist für eine politische Lösung offen. Die Kurden wurden Opfer der Aggression von IS; sie in den Kampf gegen die Gruppe einzubinden, ist Teil dieser Lösung. Eine verbale Gleichsetzung wie die des türkischen Präsidenten ist demgegenüber kontraproduktiv; er verspielt politische Chancen und vertieft alte Gräben.

Von: 
Udo Steinbach

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