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Die EU und Flucht und Migration aus Westafrika

Zeit zu handeln

Analyse

Die Fluchtwelle gen Europa hat oft wirtschaftliche Ursachen. Damit der Abbau von Handelsschranken auch zur nachhaltigen Armutsbekämpfung beiträgt, steht die EU in der Pflicht – vor allem aber die Regierungen der westafrikanischen Staaten.

Menschen, die sich verzweifelt in überfüllten Booten drängeln, Ertrinkende und Rettungseinsätze für Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer. Das sind die Bilder, die das Frühjahr 2015 geprägt haben. Weitere Verzweifelte versuchen mit allen Mitteln ein Visum für den Schengen Raum zu erhalten. Hauptsache weg. Warum? Viele Flüchtlinge fliehen aus politischen Gründen, vor Verfolgung und Konflikten. Andere sehen keine Zukunft für sich und ihre Familien und wollen der Armut entkommen.

 

Viele kommen aus Afrika südlich der Sahara. Sie alle nehmen ein enormes Risiko auf sich für die Hoffnung auf ein besseres Leben. 103.000 Migranten haben in diesem Jahr Europa über das Mittelmeer erreicht, so schätzt die International Organization for Migration (IOM). Seit Beginn des Jahres trafen bereits mehr als 54.000 Flüchtlinge in Italien ein. Bislang sind in diesem Jahr ca. 2.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken; fast 1.400 davon im April – die meisten stammten aus Afrika.

 

In einer Sitzung am 22. April 2015 zwischen Vertretern der Europäischen Union (EU) und der Afrikanischen Union (AU), die sich mit der sich zuspitzenden Flüchtlingskrise beschäftigte, betonte die Vorsitzende der AU-Kommission, Nkosazana Dlamini-Zuma, die Notwendigkeit Armut zu bekämpfen und berufliche Perspektiven zu schaffen: »Menschen, die keine Existenzgrundlage haben, werden nicht herum sitzen und sterben, sie werden sich nach besseren Möglichkeiten umsehen.«

 

Auch die EU sieht Armut als eine der Hauptursachen für Migration, so die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini Ende Mai. Armut, wirtschaftliche Unterentwicklung, Perspektivlosigkeit und eine demographische Entwicklung, die einen zunehmenden Druck erzeugt. Diese Fragen sind seit längerem Gegenstand der europäisch-afrikanischen Beziehungen; die Bekämpfung von Armut und die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums haben einen hohen Stellenwert in der Entwicklungszusammenarbeit.

 

Neben klassischen Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit ist der Handel ein wichtiges Mittel zur Förderung von notwendigem wirtschaftlichem Wachstum. Internationaler sowie regionaler Handel könnten in vielen afrikanischen Ländern die Wirtschaft stimulieren. Bislang ist dies allerdings ausgeblieben, zumindest in der Region Westafrika: Weder hat der Export von – zumeist unverarbeiteten Rohstoffen – nach Europa für die Region spürbare Fortschritte gebracht, noch ist der intra-regionale Handel signifikant vorangekommen.

 

So findet lediglich zehn bis sechzehn Prozent des Handels der Mitglieder der Regionalorganisation der westafrikanischen Staatengruppe ECOWAS (»Economic Community of West African States«) intra-regional statt. Trotz einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 6,8 Prozent im Jahr 2014 in der westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion UEOMA (»Union économique et monétaire de l’Afrique de l’Ouest«) ist es für die Mehrheit der Menschen zu keinen erkennbaren wirtschaftlichen Verbesserungen gekommen.

 

Dies soll sich nun ändern: Im Juli 2014 wurde nach Jahren des Widerstands vieler westafrikanischer Länder das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen – Economic Partnership Agreement (EPA) – zwischen der EU und der Regionalgemeinschaft ECOWAS vereinbart. Die westafrikanischen Länder müssen ihre Märkte in den nächsten zwanzig Jahren um bis zu 75 Prozent für europäische Importe öffnen und dazu schrittweise Zölle und Gebühren abschaffen.

 

Im Gegenzug wird ihnen weiterhin zollfreier Zugang zum europäischen Markt gewährt. Zivilgesellschaftliche Vertreter und Beobachter in Europa und Afrika sehen das Abkommen sehr kritisch und fürchten negative Auswirkungen auf ohnehin labile wirtschaftliche Sektoren der westafrikanischen Volkswirtschaften. Die zentrale Sorge stellt dabei der künftige schrittweise Wegfall der für viele afrikanischen Länder wichtigen Zolleinnahmen dar.

 

Diverse Studien haben die potentiellen Verluste an Zolleinnahmen mit dem Wegfall der Einfuhrzölle in die EU gegengerechnet und kommen zu dem Schluss, dass die afrikanischen Länder unterm Strich mit Einnahmeneinbußen rechnen müssen. Zur Abfederung der zu erwartenden negativen Auswirkungen, insbesondere in Hinsicht auf Ausfälle bei den Zolleinnahmen, sowie zur Erhöhung der Produktionskapazitäten, der Entwicklung des intra-regionalen sowie internationalen Handels und der Stärkung der Infrastrukturen hat die EU Anpassungshilfen angeboten, die den Entwicklungscharakter des Abkommens unterstreichen sollen.

 

Hierfür sind in dem Zeitraum von 2015 bis 2020 sechseinhalb Milliarden Euro vorgesehen. Kritiker bemängeln allerdings, es handle sich hierbei vielmehr um bereits existierende Zusagen für verschiedene bestehende Programme. Durch das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen besteht zudem die Gefahr, dass künftig Importe aus der EU andere, regionale Anbieter von den Märkten verdrängen könnten und somit der ohnehin bislang schwache intra-regionale Handel leidet.

 

Positiv ist anzumerken, dass es in den Verhandlungen gelungen ist, die landwirtschaftlichen Produkte Westafrikas zu schützen sowie Produkte des täglichen Konsums, die in Westafrika produziert werden, von der Liberalisierung auszunehmen. Die EU hat zudem zugesichert, keine subventionierten Produkte zu exportieren. Dies ist für die Volkswirtschaften Westafrikas, die stark von der Landwirtschaft geprägt sind, enorm wichtig und vorteilhaft.

 

Eine gespaltene Region

 

Die nationalen Regierungen Westafrikas haben teilweise sehr unterschiedliche Positionen bezüglich des Abkommens: Während die Elfenbeinküste es sehr stark befürwortet, lehnt Nigeria es vehement ab. Für die stark exportorientierte ivorische Wirtschaft ist die EU einer der wichtigsten Außenhandelspartner. Der weiterhin privilegierte Zugang zum europäischen Markt ist daher von großer Bedeutung.

 

Nigeria hingegen betont die Notwendigkeit von Schutzzöllen und rechnet mit größeren negativen Auswirkungen im Falle einer Unterzeichnung als bei einer Ablehnung. Der senegalesische Präsident Macky Sall hat als Verhandlungsführer der ECOWAS seit Oktober 2013 die Unterzeichnung des Abkommens maßgeblich mit voran getrieben und ist zugleich mit wachsender innenpolitischer Ablehnung in Politik und Zivilgesellschaft konfrontiert.

 

Auch in anderen Ländern der Region regt sich Widerstand. So beklagen zivilgesellschaftliche Akteure einen Mangel an Transparenz ihrer Regierungen, die sich teilweise bis heute nicht öffentlich zum Abkommen und seiner umstrittenen Unterzeichnung äußern. Widerstand kommt auch von Seiten privatwirtschaftlicher Akteure, von Industrieverbänden sowie von Gewerkschaften und internationalen NGOs.

 

Die letzte Hürde: Werden die nationalen Parlamente zustimmen?

 

Im Anschluss an die abgeschlossenen Verhandlungen folgen nun in allen Ländern der Region nationale Ratifizierungsprozesse. Zwei Drittel der nationalen Parlamente müssen das Abkommen ratifizieren, damit es Gültigkeit erlangt. Das Abkommen wird jedoch nur in den Ländern in Kraft treten, die es tatsächlich auch ratifiziert haben. In vielen Ländern hat es das Abkommen bislang nicht auf die Tagesordnungen der Parlamente geschafft – auch deshalb, weil nicht nur von zivilgesellschaftlichen, sondern auch von vielen politischen Akteuren Kritik laut wird.

 

Inzwischen hat die EU als Deadline für den Abschluss der nationalen Ratifizierungsprozesse den 1. Oktober 2016 festgesetzt. Andernfalls würden die noch existierenden einseitigen Handelspräferenzen abgeschafft. Dies würde in Westafrika die Elfenbeinküste und Ghana hart treffen – diese beiden Länder haben entsprechend am meisten zu verlieren. Eine Nichtratifizierung in einem Land wird jedoch nicht dazu führen, dass das Abkommen für diejenigen, die es ratifizieren, nicht in Kraft tritt, solange zwei Drittel der Parlamente der Region es ratifizieren.

 

Insofern kann es zu einer Art Flickenteppich kommen. Da zeitgleich aber auch die westafrikanische Zollunion verabschiedet wurde, dürfte es für die Nicht-Unterzeichner zunehmend schwerer werden, ihre Märkte gegen EU-Importe zu schützen, die im Rahmen der Zollunion über andere Länder in die Region eingeführt und dann weiter verkauft werden.

 

Chance oder Risiko?

 

Aus Sicht der EU handelt es sich bei dem Wirtschaftspartnerschaftsabkommen eher um ein Entwicklungs- als um ein Handelsinstrument: Die im Abkommen definierten Ziele enthalten entsprechend unter anderem die Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums in Westafrika, die Schaffung von Arbeitsplätzen, Armutsbekämpfung sowie eine Erhöhung der Lebenserwartung. All dies soll den Entwicklungscharakter des Abkommens unterstreichen. Die hier formulierten Ziele sind essentiell für die Länder Westafrikas, ob sie jedoch durch das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen erreicht werden können, bleibt abzuwarten.

 

Das Abkommen wird weder quasi automatisch die notwendige Entwicklung der Region vorantreiben, noch muss es dieses zwangsläufig ausbremsen. Vielmehr wird vieles auch von den jeweiligen afrikanischen Regierungen abhängen. Die graduelle Teilöffnung der westafrikanischen Märkte über einen Zeitraum von zwanzig Jahren bietet einen Anlass sowie Rahmen zur aktiven Gestaltung von Wirtschafts- und Industriepolitiken der westafrikanischen Länder, um nicht nur den anstehenden Wandel besser abzufedern, sondern ihn – trotz aller Schwierigkeiten – als Chance zu nutzen und zu gestalten.

 

Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung liegen in erster Linie in den Händen der westafrikanischen Regierungen selbst. Erforderlich sind hierfür die Förderung von Infrastruktur, der Ausbau des intra-regionalen Handels, und vor allem der Aufbau von Industrien, um Wertschöpfungsketten zu schaffen und auch, um die Abhängigkeit von Rohstoffexporten und deren Preisschwankungen zu reduzieren. Ziel muss die Schaffung eines nachhaltigen Wachstums sein, das die Abhängigkeit der Wirtschaften von fossilen Brennstoffen verringert und ausreichend Arbeitsplätze schafft.

 

Erst wenn eine Mehrheit der Bevölkerungen eine ausreichende Existenzgrundlage und Perspektiven hat, werden sich die Flüchtlingsströme und die damit häufig verbundenen menschlichen Katastrophen signifikant verringern. Afrikanische Regierungen müssen ihrer Verantwortung nachkommen – und Europa sollte sie dabei unterstützen.


Annette Lohmann

 

leitet das Büro der Friedrich-Ebert Stiftung (FES) in Dakar, Senegal.

Von: 
Annette Lohmann

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