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Die Armee und die Islamisten in Ägypten

»Sehe ich aus wie ein Islamist?«

Feature

Die zahlreichen Demonstrationen in Ägypten am 30. August fanden in den deutschen Medien kaum Beachtung. Dabei wenden sich immer mehr Ägypter gegen das Narrativ der Armee von der Islamistenbedrohung – und fordern ihre Revolution zurück.

»Terroristen« und »kommt herunter, und wir tragen es auf der Straße aus«, ruft eine wütende Menge in den Himmel. Sekunden später explodieren die Tränengasgranaten, Tausende fliehen vor Gewehrfeuer. Die »Terroristen«, die die wütende Menge am Freitagabend meint, sind die Soldaten der ägyptischen Armee, die plötzlich in Hubschraubern zwischen den Hochhäusern am Kairoer Sphinx-Platz auftauchen und die Straßen einmal mehr in ein Meer aus Wut und Tränen verwandelten.

 

Vor einer kleinen Moschee im Kairoer Stadtteil Gizeh versammeln sich Stunden zuvor einige Dutzend Demonstranten. Fahnen mit dem Porträt des gestürzten Präsidenten Mursi wehen im 40 Grad heißen Wind. Plakate mit einer gelben Hand kleben auf Windschutzscheiben vorbeifahrender Autos. Die vier ausgestreckten Finger sind seit dem größten Massaker der jüngeren Geschichte des Landes am 15. August am Rabaa-al-Adawiya-Platz zum Symbol der Proteste der Anhänger der Muslimbrüder geworden.

 

Kampf gegen Terroristen, ohne Terroristen

 

»Vergiss Mursi! Die Gewalt und der Kampf um Freiheit einen uns«, schreit der 23-jährige Mohammad und wird nur übertönt von einem kleinen brünetten Mädchen: »Was glaubst du, wer du bist, Sisi, wir haben schon Mubarak in den Arsch getreten.« Die ganze Woche hatten sich nicht nur die Gegner des Militärputsches, sondern auch ägyptische Staatsmedien auf diesen Tag vorbereitet.

 

Der Schriftzug »Ägypten gegen Terrorismus« prangte in der Ecke des Bildschirms während der Hauptnachrichten, ein Sprecher der von der Armee eingesetzten Übergangsregierung versicherte, dass man nicht zurückschrecken werde, »das Land gegen Islamisten zu verteidigen«. »Siehst du hier irgendjemanden mit Waffen? Sehe ich aus wie ein Islamist«, fragt ein bärtiger Mann, bevor er sein Kreuz um den Hals unter seinem durchgeschwitzten Hemd hervorholt.

 

Tatsächlich erinnert die Demonstration, die innerhalb von drei Stunden von einigen Dutzend auf rund 50.000 Menschen angewachsen ist, nicht an das Narrativ von gewaltbereiten Islamisten, die den Tod hunderter ihrer Anhänger zumindest provoziert hätten. Statt wie bei einem Islamistenaufmarsch herrscht eine Stimmung wie bei Demonstrationen der Occupy-Bewegung, die Zusammensetzung aus Religiösen, Säkularen, Nationalisten und Linken erinnert eher an die Besetzer des Istanbuler Gezi-Parks.

 

Neben einem bärtigen Scheich laufen drei Kinder mit Blümchen im offenen Haar. Später geben sich ihre Eltern als Kopten zu erkennen. Ein Mann mit Che-Guevara-T-Shirt steht auf dem Dach eines vorbeifahrenden Autos und wird von der Menge genauso bejubelt wie eine Aktivistengruppe Niqab-tragender Frauen.

 

Deutsche Medien ignorieren oder übernehmen Propaganda des Militärs

 

Dutzende Demonstrationen gab es allein in Kairo. »Hunderttausende«, so berichtet selbst das armeeloyale Staatsfernsehen, sollen es allein in Kairo gewesen sein. Mindestens neun Menschen starben durch Schüsse von Polizei und Armee. In deutschen Medien findet der Tag so gut wie gar nicht statt, während fast alle Tageszeitungen und Fernsehsender schweigen, berichtet die Deutsche Welle über 5.000 »Islamisten«, die sich, aufgerufen durch die Muslimbrüder, zusammengefunden hätten.

 

»Wie sollen hier Muslimbrüder demonstrieren, die wurden doch alle festgenommen?«, fragt Mohammad. Tausende Funktionäre wurden in den letzten beiden Wochen inhaftiert. »Eigentlich hat die Armee uns damit einen Gefallen getan, nun kann keine Partei unseren Protest zurückhalten«, sagt Mahmud, der am 15. August seinen Bruder verloren hat. Von Rache und Gewalt spricht selbst er nicht: »Ich will die Freiheit für Ägypten zurück!« Gegen 18 Uhr endet dann schließlich doch die Gewaltlosigkeit – seitens der Armee, nicht der Demonstranten.

 

Über Schützenpanzer fliegen Tränengasgranaten in die Menge. Gewehre feuern in die Luft. Ein Junge liegt blutend auf einem Müllsack. Tausende Demonstranten rennen in Panik davon. Nur ein paar »Islamisten« widersetzen sich: Zwei bärtige Männer und drei verhüllte Frauen stehen mit Tränengasmasken über Bart und Niqab am Straßenrand, verteilen Wasser und beruhigen die in Panik geratenen Demonstranten.

Von: 
Fabian Köhler

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