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Deutschland und das Assad-Regime

Robert Blum und der Kampf um Syrien

Essay

Deutschland scheint bereit sich damit abzufinden, dass das Assad-Regime in Syrien bleibt. »Immer noch besser als Al-Qaida« – so wirkt die Haltung der Berliner Politik. Haben die Deutschen die Geburt ihrer eigenen Nation vergessen? 

Der einfache Bürger kann nicht auf der Straße umhergehen, ohne von der Polizei eingeschüchtert zu werden. Die Menschen – vor allem Intellektuelle, Schriftsteller und Journalisten – werden überwacht. Lokale Zeitungen fallen der staatlichen Zensur anheim. Bücher mit demokratischen oder liberalen Leitideen werden verboten, ihre Verfasser inhaftiert. Und die Gefängnisse der Staatsmacht sind mit Oppositionellen überfüllt. So in etwa sah es in Deutschland im Vormärz 1848 aus.

 

Die 38 Souveräne des damaligen Deutschen Bunds waren sich vor allem in einer Sache einig: der Verfolgung der Oppositionellen zwischen Donau, Rhein und Oder. Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung lebte in ländlichen Dörfern und hatte von der industriellen Revolution zunächst kaum mehr als akute Armut und Unterdrückung. In der Hoffnung auf ein besseres Leben wanderten allein zwischen 1820 und 1850 mehr als 740.000 Deutsche in die Vereinigten Staaten aus.

 

Aus diesem Klima der Angst und Frustration ist die deutsche Nation entstanden – und den arabischen Völkern geht es heute ähnlich. Auch nach dem Arabischen Frühling stimmen sich ihre Regierungen lediglich im Hinblick auf die Maßnahmen zur Einschränkung der Freiheiten oder zur Überwachung ihrer Bürger ab. Zahllose Araber sind bereits ausgewandert, während sich die soziale und ökonomische Situation für die in der Heimat Verbliebenen stetig verschlechtert hat. Ein Licht am Ende des Tunnels scheint nicht in Sicht. Aber die Araber sind nicht sämtlich bereit, sich damit abzufinden.

 

Waren die Deutschen damals reifer für Demokratie?

 

Im März 1848 trotzten rund 2500 deutsche Bürger dem Versammlungsverbot und forderten in Mannheim das allgemeine Wahlrecht sowie eine freie Presse. Ihre Forderungen griffen wie ein Lauffeuer auf andere Städte über. In der Frankfurter Paulskirche wurde am 18. Mai 1848 die erste deutsche Nationalversammlung gewählt. König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen befahl diese demokratischen Bestrebungen mit militärischer Gewalt niederzuschlagen. In vielen deutschen Ländern nahm die Auseinandersetzung bald bürgerkriegsähnliche Ausmaße an.

 

Die Revolution wurde zwar unterdrückt, aber der Wind der Veränderung hatte Deutschland erfasst - die herrschenden Fürsten sahen sich genötigt, einige Wahlen zuzulassen und die Schwarz-Rot-Goldene Fahne der Märzrevolution anzunehmen. Viele Deutsche haben kaum noch eine Verbindung zu dieser Epoche – und sind ohnehin der Ansicht, dass man die arabische Welt heute kaum mit der Europas im 19. Jahrhundert vergleichen könne.

 

Schließlich, so ein weit verbreitetes Narrativ, sei die arabische Welt nicht einmal in der Epoche der Aufklärung angekommen. Betrachtet man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, so sind Zweifel daran angebracht, ob die Deutschen 1848 schon für die Demokratie bereit gewesen sind. Sie kämpften aber dennoch dafür. Bevor die Demokratie zu einem Staatssystem wird, verwurzelt sie sich zunächst als Geisteshaltung. Es scheint, dass die Geisteshaltung eines Volkes wesentlich schwerer zu verändern ist als formale Staatsstrukturen.

 

Dies ist auch ein Hauptgrund, weshalb der heutige demokratische Wandel in Ägypten und anderen Ländern des Arabischen Frühlings einen Rückfall erleidet. In der Revolution von 1848/1849 und dem Frankfurter Dokument schlugen sich maßgeblich die Ideen des stellvertretenden Vorsitzenden der Nationalversammlung nieder: Robert Blum. Vor seiner Hinrichtung in Wien vor ziemlich genau 165 Jahren schrieb er an seine Frau: »Es gilt nur siegen oder sterben und wer das Erstere will, muss zeigen, dass er zum Letzteren bereit ist.«

 

Blums freiheitliche Ideen erwiesen der künftigen Demokratie in Deutschland einen unschätzbaren Dienst, denn diese konnten nicht hingerichtet werden. Doch auch seine Opferbereitschaft macht ihn zu einem Großen der deutschen Geschichte – er gab sein Leben, um nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen.

 

Dass Menschen bereit sind, für Freiheit zu sterben, gilt heute als Fanatismus

 

Dass Menschen in Syrien bereit sind, für die Freiheit zu sterben, wird ihnen heute vielfach als Fanatismus ausgelegt. Die opferbereiten Syrer werden – Dank der Propaganda des Regimes und der Einmischung Al-Qaidas – mit extremistischen Dschihad-Kriegern über einen Kamm geschoren. Dabei liegt die Zeit, in der man das Gegenteil überall im Land deutlich sehen konnte, erst Monate zurück.

 

Ein großer Teil der syrischen Bevölkerung forderte landesweit einen demokratischen Wandel mit dem Slogan: »Das Volk ist eins … Lieber der Tod als Erniedrigung«. Wenn das Fanatismus ist, waren Robert Blum und seine Mitstreiter wohl ebenfalls Fanatiker. Aber die Deutschen werden anerkennen: Es war gut, dass es sie gab. Die Repressalien des Assad-Regimes unterscheiden sich von der schmerzhaften Erfahrung Deutschlands im Jahre 1848 – die syrische Diktatur zeigt keineswegs den Pragmatismus der deutschen Fürsten, die ihre Länder nicht um den Preis des Machterhalts in Schutt und Asche legen wollten.

 

Die Syrer bezahlen dafür den höchsten Preis – bislang schon weit über 100.000 Menschenleben. Wie viele andere Völker auch werden die Syrer ihre Freiheit nicht allein erlangen können. Ebenso wenig wie einst die Deutschen. Jetzt ist es das syrische Volk, das die Hilfe der freien Welt für seinen Freiheitskampf benötigt. Es braucht die Erfahrungen und Kenntnisse seiner Freunde zur Errichtung von Übergangsinstitutionen, die später zu einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat in Syrien führen können.

 

Dabei ist vor allem Deutschland in der Lage, durch die Unterstützung von strategischen Projekten eine maßgebliche Rolle zu spielen. Wer Syrien jetzt aufgibt und sich bequem in der Haltung einrichtet, es gebe nur Assad oder Al-Qaida, wer dem Schlachten tatenlos zusieht, verrät alle Ideale, für die eine demokratische Gesellschaft stehen kann. Konkret besteht das Bedürfnis nach strategischen Entwicklungsprozessen bei der Erarbeitung einer neuen Verfassung, eines demokratischen Staatsorganisationsrechts und lokaler Verwaltungsstrukturen.

 

Sobald die Kämpfe in Syrien etwas abebben, werden die Menschen nach dem nächsten Schritt fragen und die neuen Regierenden werden Ausschau nach gangbaren Transformationsmechanismen halten. Und selbst wenn Assads Armee wieder die Kontrolle über das Land gewinnen sollte, wird es nicht weitergehen können wie zuvor. Im Grunde entspricht dies einer altbekannten, aber im Ausland kaum noch gehörten Forderungen vieler syrischer Aktivisten: Wir wollen eine Revolution gegen das bestehende System und keine islamistische Kopie desselben! Auf diese Zukunft müssen sich die syrischen Intellektuellen und Fachkräfte vorbereiten.

 

Die Freunde des syrischen Volkes, sofern es sie wirklich gibt, können sie darin unterstützen. Der Name Robert Blum ist den meisten Syrern sicher noch kein Begriff. Aber die Deutschen sollten sich an ihn erinnern können. Solange es Menschen gibt, die bereit sind, für Recht und Freiheit jeden Preis zu zahlen, ist es nicht zu spät.

 


Ghiath Bilal

ist im Jahr 1978 in Damaskus geboren. Seit Anfang der Revolution in Syrien engagiert er sich bei verschiedenen Organisationen im Bereich Entwicklungsprojekte sowie humanitäre Hilfe. Er ist ein Mitglied mehrerer Strategieforschungs- und politischen Analyse-Institute in und außerhalb Syriens. 

Von: 
Ghiath Bilal

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