Lesezeit: 11 Minuten
Der zenith-Jahresrückblick

Was 2012 wichtig war

Analyse

Es gibt zwei Konstanten im globalen Medienkalender: Das Sommerloch und die Flut an Jahresrückblicken zur Adventszeit. Letzterem möchte sich auch zenith nicht verweigern.

Wir haben in unserem Nachrichtenarchiv gegraben und 10 Geschichten herausgesucht, die unserer Meinung nach in diesem Jahr nicht die Medienaufmerksamkeit erhalten haben, die sie verdient hätten. Selbstverständlich ist die Liste unvollständig. Deshalb bitten wir Sie, uns auf unserer Facebook-Seite mitzuteilen, welche Story wir in den letzten 12 Monaten verschlafen haben. Welche Themen lagen Ihnen am Herzen, worauf hätten wir Journalisten einen genaueren Blick werfen sollen? Auf ein friedlicheres, demokratischeres und unsere Hoffnungen erfüllendes Nachrichtenjahr 2013.

 

1) Das Schicksal der Rohinngyas in Myanmar

Myanmar bot in diesem Jahr ein sehr zwiespältiges Bild. Internationales Lob für die zaghafte Öffnung des Landes und die lange erwartete Freilassung der Oppositionsikone Aung San Suu Kyi standen ethnische Unruhen zwischen der muslimischen Rohingya-Minderheit und Teilen der buddhistischen Bevölkerung gegenüber. Seit der Eskalation der Gewalt im Juni flohen zehntausende Rohingyas ins benachbarte Bangladesch, die myanmarische Militärregierung sieht in ihnen keine vollwertigen Bürger ihres Landes. Allein Ende Oktober starben bei Feuergefechten in der Rakhaing-Provinz mindestens 84 Menschen. Zahlreiche Dörfer wurden im Laufe des Jahres von Mobs verwüstet und niedergebrannt.

 

2) Schiiten als Minderheit in Saudi-Arabien

Auch im erz-sunnitischen Königreich Saudi-Arabien gibt es eine schiitische Minderheit. Zwischen 10 und 15 Prozent der 28 Millionen Einwohner bekennen sich zu einem der schiitischen Glaubensrichtungen. Die meisten von ihnen leben in der Ostprovinz und im südwestlich davon gelegenen Najran. Dass sich seit Ende 2011 in den schiitischen Städten Qatif und Dammam Menschen gegen die Sicherheitskräfte auflehnten, Beerdigungen sich wiederholt in Demonstrationen verwandelten, erklärte die Staatsführung mit den Unruhen in Bahrain.

 

Dortige Aktivisten hätten über die Grenzen hinweg Aufstände angestachelt. Damit ignoriert Riad ein hausgemachtes Problem – die Schiiten im Ostteil des Landes fühlen sich nicht repräsentiert und in der Auslebung ihrer Kultur unterdrückt. Bei wiederholten Gewaltausbrüchen 2012 starben immer wieder Menschen.

 

3) Außerparlamentarische Opposition in Kuwait

Kuwait war für sein streitlustiges Parlament bekannt – in kaum einem anderen arabischen Staat gibt es eine mit ähnlich umfangreichen Rechten ausgestattete Kammer. Genauso ist die konstitutionelle Monarchie aber auch für eine chronische politische Instabilität bekannt – nicht enden wollende Zyklen aus Parlamentsauflösung, Neuwahl und abermaliger Auflösung haben in Kuwait 2012 eine Politikerverdrossenheit erzeugt, jedoch keine Politikverdrossenheit.

 

Zehntausende zogen in den größten Demonstrationen der kuwaitischen Geschichte durch die Hauptstadt und forderten größere politische Freiheiten, eine Reform des Wahlgesetzes und eine Beschneidung der Befugnisse des Herrscherhauses. In die parlamentarische Opposition haben viele Kuwaitis das Vertrauen verloren – zu tief seien auch deren Politiker in Machenschaften und Korruption verstrickt. Stattdessen tragen sie ihr Missfallen auf die Straße.

 

4) Studentenproteste und Ölkrieg im Sudan

Der Nord-Süd-Konflikt dominierte auch in diesem Jahr die Nachrichten – verständlich, bestand doch die Hoffnung, die Spaltung des Landes Mitte 2011 könne den brüchigen Frieden zwischen beiden Landesteilen festigen. Stattdessen eskalierte der insbesondere der Konflikt um die von Nord wie Süd beanspruchte Region Süd-Kordofan, bei dem Stellvertreterkrieg diverser Milizen mit der sudanesischen Armee starben bis Oktober 633 Menschen. Dass Diktator Omar al-Baschir neben Grenz-und Ölkonflikten in diesem Jahr aber auch mit diversen innenpolitischen Krisen konfrontiert war, blieb weitgehend unbeachtet.

 

Insbesondere an der Universität von Khartum boykottierten hunderte Studenten in den Sommermonaten die Lehrveranstaltungen und zogen durch die Straßen der Hauptstadt, um gegen steigende Lebenskosten und Polizeigewalt zu protestieren. Auch in der herrschenden Nationalen Kongresspartei bröckelte die Machtbasis al-Baschirs zuletzt: Der frühere Geheimdienstchef Salah Gosh sowie hochrangige Militärs wurden wegen eines angeblichen Putschversuches verhaftet. Gosh war bis 2009 einer der engsten Vertrauten des Präsidenten.

 

5) Das Entstehen der Nahost-Umweltbewegung

Nein, die Weltklimakonferenz Ende November in Doha hat nichts mit dieser Entwicklung zu tun. Tatsächlich lassen die in vielen Staaten der Region aus dem Boden sprießenden Umweltschutzorganisationen bislang eine regionale oder internationale Koordination weitgehend vermissen. Auch handelt es sich dabei nicht um Initiativen westlicher Organisationen wie Greenpeace oder dem WWF.

 

Jugendliche in vielen orientalischen Ländern schließen sich mit Anwohnern im Kampf gegen Großprojekte und die rücksichtslose Plünderung der Umwelt zusammen. Es ist ein ungleicher Kampf um Grundrechte: Ägypter im Delta wollen verhindern, dass ihr Trinkwasser durch Düngemittelfabriken verschmutzt wird, Iraner ringen um den Erhalt des Urmia-Sees und indonesische Studenten legen sich mit den allmächtigen Palmölkonzernen an. Ihr Wiederstand setzt an der Wurzel des Problems an und versucht Strukturen für zivilen Widerstand im allgemeinen zu schaffen. Ganz ohne westliche Hilfe.

 

6) »M23«-Rebellion im Kongo

Ein ungeheuerlicher Vorwurf wurde im Oktober 2012 publik: Ruanda und Uganda seien für die Eskalation der sogenannten »M23«-Rebellion im Osten Kongos verantwortlich. Laut einem vertraulichen UN-Bericht leitet Ruanda den militärischen Widerstand, während Uganda ihn politisch koordiniert. Auch die Einnahme der Provinzhauptstadt Goma am 20. November sei kein Überraschungsangriff gewesen, sondern von langer Hand geplant.

 

Zwar zogen sich die Rebellen elf Tage später wieder zurück, dennoch steht der brüchige Frieden, der 2003 den blutigen zweiten Kongokrieg beendete, vor dem Aus. Obwohl die Kämpfe zwischen regierungstreuen und abtrünnigen Soldaten das ganze Jahr 2012 über wüteten, rückte der Konflikt nur im November kurz in die Schlagzeilen. Dabei ist chronische Instabilität in Zentralafrika das Erbe eines Konflikts, der 1994 im ruandischen Völkermord gipfelte.

 

Knapp zehn Jahre später hat sich Uganda zu einem zentralen Akteur entwickelt – und setzt die internationale Gemeinschaft mit seinem geopolitischen Gewicht unter Druck: Falls der Sicherheitsrat an dem Bericht festhält, droht das Land, ziehe es sich aus der AMISOM-Mission in Somalia zurück. Die 5.700 ugandischen Soldaten waren beim militärischen Erfolg gegen die Schabaab-Milizen entscheidend, ohne sie dürfte der Neuaufbau am Horn von Afrika scheitern.

 

Nach der Machtdemonstration der Rebellen in Goma wird Kongos Präsident Joseph Kabila nicht umhin kommen, Gesprächen mit »M23« unter ugandischer und ruandischer Führung zuzustimmen.

 

7) Vorbild Philippinen

Der philippinische Präsident Benigno Aquino und Murad Ebrahim, Anführer der »Moro Islamischen Befreiungsfront«, der größten islamischen Rebellengruppe der Philippinen, haben Gräben überwunden, Vertrauen aufgebaut und schließlich ein Abkommen abgeschlossen, das als eine der ganz wenigen Positivbeispiele für Friedensstiftung im Kalenderjahr 2012 eingeht.

 

Das Abkommen sieht vor, bis 2016 den Grundstein für eine muslimische Selbstverwaltung im Süden des überwiegend katholischen Landes zu legen. Im selben Jahr endet Aquinos Amtszeit – Zeit genug, um Detailfragen anzugehen. Bereits im November einigten sich beide Seiten auf gemeinsame Minenräumtrupps – eine Voraussetzung, um das wirtschaftliche Potenzial des Gebietes, in dem Mineralvorkommen vermutet werden, nutzbar zu machen.

 

Ein Plebiszit im Jahr 2015 in den muslimisch dominierten Regionen soll dann Größe und Form der neuen, autonomen Region Bangsamoro bestimmen. Nach einem jahrzehntelangen Konflikt mit 160.000 Toten ist damit der Durchbruch für ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Christen erzielt. Zugegeben, die Umstände waren günstig, nahezu alle regionalen Mächte zogen an einem Strang und ermöglichten den behutsamen Aufbau und Abschluss der Gespräche.

 

Und die tiefer liegenden wirtschaftlichen Probleme werden durch gut gemeinte Versöhnungsgesten nicht gelöst. Dennoch geben die Philippinen ein Beispiel vor, das in Gegenden mit ähnlichen Konfliktlagen Anwendung finden könnte: von Indonesien über Sudan bis Nigeria.

 

8) Konfliktherd Dagestan

In knapp 13 Monaten wird in Russland die erste Olympiade seit der Boykott-Olympiade 1980 stattfinden. Umso überraschender, dass die Konfliktregion Nordkaukasus in diesem Jahr so wenig auf dem Schirm der Auslandsberichterstattung war. Eine Chance das zu ändern böte sich im Februar, wenn, knapp ein Jahr vor Sotschi 2014, Hannover 96 zum Achtelfinale bei Anschi Machatschkala in der UEFA Euro League antritt.

 

Denn weit bedeutender als die skurrilen Meldungen über den Oligarchenklub ist die Verschlechterung der Sicherheitslage im Nordkaukasus im Allgemeinen und in Dagestan im Speziellen – nicht ohne Grund muss der Klub aus der dagestanischen Hauptstadt Spiele noch immer in Moskau austragen. Der Losschreck früherer Tage, Terek Grosny, darf seine Heimspiele hingegen wieder in der tschetschenischen Hauptstadt austragen – auch das vielleicht ein Indiz für die Verlagerung des Konfliktgebietes in der Region Nordkaukasus.

 

Sufische Imame, salafistische Waldbrüder, organisierte Kriminalität und russische Kommando-Einheiten gehören zu den zahlreichen Opfern wie Tätern in einem undurchsichtigen Konflikt, der schnell außer Kontrolle zu geraten und zu einem neuen Tschetschenien zu werden droht. Die Gewaltwelle machte deutlich, welches Gefahrenpotential eine Verquickung von Unabhängigkeitsbestrebungen mit religiösen, innerislamischen Konkurrenzkämpfen birgt. Immerhin ist ein Siebtel der russischen Bevölkerung islamischen Glaubens.

 

Eine Ausdehnung der nordkaukasischen Aufstandsbewegung in andere Gebiete würde den inneren Zusammenhalt der Russischen Föderation weiter schwächen. Bisher setzt Moskau auf eine militärische Verfolgung bewaffneter Kämpfer und die Zusammenarbeit mit etablierten Sufi-Netzwerken. Es ist jedoch fraglich, ob sich der Dialog mit Vertretern des Salafismus auf Dauer vermeiden lässt. Noch schreckt die Zentralregierung hiervor zurück. Zu groß ist die Furcht, dass andere Gruppen in dem multi-ethnischen und multi-religiösen Riesenreich dies als Präzedenzfall sehen könnten.

 

9) Eritrea hat die weltweit größte Flüchtlingsrate

Eritrea erlebt einen ständigen Exodus von Flüchtlingen, die UN schätzt, kein Land weltweit eine höhere Quote an Flüchtlinge aufweist – meist in Richtung Europa. Erst Mitte Juli waren 54  Bootsflüchtlinge beim Versuch, das Mittelmeer in Richtung in Italien zu überqueren ums Leben gekommen, nur einer der Insassen hat überlebt. Die Hälfte der Flüchtlinge stammte aus Eritrea - kein unübliches Bild für die Grenzschützer. Auf dem »Press Freedom Index« von Reporter ohne Grenzen belegt Eritrea den 179. und letzten Platz – hinter Nordkorea und Turkmenistan. 

 

Bei einer Bevölkerung von knapp 5,4 Millionen unterhält Eritrea eine Armee mit etwa 300.000 Soldaten. Staatspräsident Isayas Afewerki rechtfertigt den riesigen Sicherheitsapparat, der über 20 Prozent der Haushaltseinnahmen verschlingt, mit dem anhaltenden Konflikt mit dem Nachbarn Äthiopien, von dem Eritrea 1992 die Unabhängigkeit erlangte.  Eine beliebte Gelegenheit zur Flucht scheinen in den letzten Jahren internationale Sportevents zu sein: Sowohl 2009, 2011 als auch dieses Jahr verschwanden  ganze Fußballmannschaften bei internationalen Turnieren.

 

Auch der Leichtathlet Weynay Ghebresilasie, der bei den Olympischen Spielen in London die Nationalflagge trug, nutzte gemeinsam mit vier Teamkollegen die Gelegenheit, in Großbritannien Asyl zu beantragen.

 

10) Drohnenkrieg im Jemen

Seit zehn Jahren fliegt das US-Militär Drohneneinsätze im Jemen. Beliebt wegen ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten als Aufklärungs- und Kampfmaschinen, setzen die Amerikaner sie im Jemen für Angriffe auf Al-Qaida-Mitglieder ein, da die Terrororganisation im Jemen aufgrund der Anschläge auf das US Militärschiff Cole im Jahr 2002 und die US-Botschaft in Sanaa 2008 als ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten gilt.

 

Seit 2011 hat die Zahl der ferngesteuerten Drohnenangriffe drastisch zugenommen und das Mandat für die Einsätze wurde ausgeweitet, so dass Militär und CIA Drohnen nun auch auf Verdacht einsetzen können. Der jemenitischen Bevölkerung bleiben dabei vor allem die zivilen Opfer in Erinnerung. Lokale Aktivisten sind überzeugt, dass dies nur dazu führt, dass Al Qaida im Jemen weiter erstarkt.

 

Obwohl sich viele Ortschaften im Kampf gegen bewaffnete Islamisten inzwischen zusammengeschlossen haben, hat sich die Zahl der al-Qaida-Kämpfer seit 2009 verdreifacht, so ein Bericht des US-Verteidigungsministeriums.  Die Menschenrechtsgruppe Amnesty International wirft dem US-Militär vor, sogenannte „follow-up-strikes“ durchzuführen. Dabei bombardieren Drohnen ein Gebiet innerhalb kurzer Abstände zwei Mal – dies würde vor allem Helfer und Schaulustige treffen.

Von: 
Robert Chatterjee, Laura Ginzel, Nils Metzger

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.