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Der Westen und die Strategie im Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS)

Ein neuer Krieg mit alten Mitteln?

Analyse

Kann der Westen gegen den »Islamischen Staat« (IS) effektiv Krieg führen, ohne seine Anti-Terror-Strategie grundlegend zu überarbeiten? Dass Luftschläge allein nicht ausreichen werden, ist den Militärplanern bewusst. Und was kommt danach?

Knapp zwei Wochen nach dem Schock der Pariser Anschläge stand fest: Deutschland wird Frankreich die Solidarität auch militärisch nicht vorenthalten und sich mit 1.200 Soldaten, Aufklärungs-Tornados und Schiffen an den französischen Luftschlägen in Syrien beteiligen. Der kürzlich beschlossene Einsatz der Bundeswehr in Syrien ist der größte Militäreinsatz Deutschlands seit der Beteiligung am Afghanistan-Krieg vor 14 Jahren. Die Situation in Afghanistan 2001 und die Situation in Syrien heute sind grundlegend verschieden, und dennoch lohnt ein kurzer Blick auf Afghanistan 14 Jahre nach Beginn der NATO-Mission »Enduring Freedom«.

 

Die Bilanz fällt ernüchternd aus: Die Taliban sind als militärische und politische Kraft nicht aus dem Land verschwunden, sondern üben in berechenbarer Regelmäßigkeit tödliche Anschläge aus, darunter immer wieder auf Vertreter der Regierung oder die internationale Schutztruppe. Die vom Westen gestützte Regierung ist überaus unpopulär und tief in Korruption und Vetternwirtschaft verstrickt. Die Perspektivlosigkeit der jungen Generation hat dazu beigetragen, dass Afghanistan im Jahr 2015 die drittgrößte Gruppe an Flüchtlingen in Europa stellte.

 

Die ausländischen Dschihadisten von Al-Qaida, welche das Regime der Taliban damals beherbergte, sind als Organisation zwar geschwächt – doch ihre Ideologie des militanten Dschihadismus hat in den 14 Jahren seit Beginn von »Enduring Freedom« in vielen Teilen der muslimischen Welt Ableger gefunden. Etliche dschihadistische Neugründungen haben sie in fast alle Teile der muslimischen Welt getragen, von Nigeria über Nordafrika bis Bangladesh und Indonesien.

 

Ein Blick auf die weltweiten Opferzahlen durch islamistische Terroranschläge lässt zudem noch einen weiteren, verstörenden Schluss zu: 14 Jahre Krieg gegen den Terror haben nicht dazu beigetragen, den islamistisch motivierten Terror zu schwächen – im Gegenteil: Er hat seitdem eine beispiellose Hochphase erlebt.

 

Skeptische Stimmen zum Syrien-Einsatz kommen auch aus den Reihen der Bundeswehr

 

Die Vehemenz, mit der Francois Hollande und etliche Minister seiner Regierung in den Tagen nach den Pariser Anschlägen zum Krieg gegen den IS aufriefen, erinnerte auch in diesen Tagen manchen an die aufgeheizte und rachsüchtige Stimmung in den USA nach dem 11. September 2001. Diese Stimmungslage hat seinerzeit dazu beigetragen, die USA und andere westliche Länder in die Interventionen in Afghanistan und dem Irak zu treiben – jedoch nicht dem Ziel näher gebracht, den internationalen Terrorismus zu besiegen oder die eroberten Länder auch nur im Ansatz zu befrieden.

 

Eigentlich müsste dies Grund genug sein, die westliche Strategie zur Eindämmung des dschihadistischen Terrorismus einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Skeptische Stimmen zum Syrien-Einsatz kommen in diesen Tagen aus den Reihen der Bundeswehr selbst. André Wüstner, der Pressesprecher des Bundeswehrverbands, bemängelt, dass der Einsatz bisher keine klare Strategie hat: »Es braucht ein Ordnungsziel und eine klare Strategie. Da erwarten wir noch Antworten.« André Wüstner ist nicht der einzige, der den Einsatz in seiner aktuellen Form als wenig Erfolg versprechend einschätzt. Die Ansicht, dass Luftschläge alleine nicht in der Lage sind die Terrormiliz zu bezwingen, ist weitestgehend Konsens unter militärischen Planern.

 

Ebenso verbreitet ist die Befürchtung, dass eine Strategie, die in erster Linie auf Luftschläge setzt, letztlich sogar kontraproduktiv sein könnte. In den Städten Raqqa und Mosul, die nun ins Visier der Luftangriffe geraten sind, befinden sich nicht nur die wichtigsten Kommandozentren der Terrormiliz, es leben dort auch nach wie vor mehrere hunderttausend Einwohner.

 

Lokale Quellen aus Raqqa wie der Blog »Raqqa is being slaughtered silently« berichten, dass der IS zurückgebliebene Zivilisten daran hindert, die Stadt zu verlassen. Pässe und Ausweise von Bewohnern sollen zerstört worden sein, die Bevölkerung würde praktisch als Geisel gehalten. Die Berichte deuten darauf hin, dass der IS versucht, die zurückgebliebenen Zivilisten als Schutzschilder gegen Bombenangriffe zu nutzen.

 

Diese Taktik ist für die Terrormiliz gleich in zweierlei Hinsicht vielversprechend: Militärisch dient die Zivilbevölkerung als physischer Schutz gegen Luftangriffe. Wo sich Zivilisten aufhalten, können die Luftschläge der internationalen Koalition nicht mit der gleichen Vehemenz zuschlagen. Darüber hinaus kommen durch westliche Luftangriffe getötete muslimische Zivilisten der »Öffentlichkeitsarbeit« der Terrormiliz durchaus zugute. Auch wenn die Zivilisten in Raqqa oder Mosul kaum wissen, wovor sie sich mehr fürchten sollen – vor Zwangsrekrutierung und Schikanen des IS oder Luftangriffen der internationalen Koalition – die toten Zivilisten machen es für den IS leichter, sich in der sunnitischen Welt als Beschützer der Sunniten darzustellen.

 

So verhasst der IS in weiten Teilen der sunnitischen Welt ist – auf eine beträchtliche Anzahl von Sunniten übt er auch eine gewisse Faszination aus. Die Tatsache, dass die Terrormiliz es geschafft hat, weite Teile der westlichen Gesellschaften derart zu verunsichern, lässt sie als ernstzunehmende politische Größe erscheinen. Eine internationale Koalition der westlichen Mächte und Russlands, die nicht in der Lage ist, die Terrormiliz per Luftkrieg zu besiegen – wie es die meisten militärischen Planer und Experten vermuten – würde dem Kampf gegen den militanten Islamismus einen Bärendienst erweisen.

 

Auch nach Luftschlägen der mächtigsten Militärmächte der Welt unbezwungen zu bleiben, würde die Anziehungskraft auf jene junge Muslime, die mit der Terrormiliz sympathisieren, noch erhöhen. Aus diesem gestärkten Image neue Rekruten und Sympathisanten zu gewinnen, dürfte den Terroristen nicht schwer fallen – ein fraglicher Dienst also für das erklärte Ziel des Einsatzes, Europa vor der Gefahr durch militante Dschihadisten zu sichern.  Etliche europäische Politiker beschworen nach den Pariser Anschlägen den langen Atem, der im Kampf gegen den militanten Dschihadismus jetzt gebraucht werde.

 

Doch mindestens ebenso braucht es kühle Köpfe – die sich nicht zu unbedachten Reaktionen hinreißen lassen – und das Entwickeln einer langfristig angelegten und vielschichtigen Strategie zur Eindämmung des internationalen Terrors. Eine Analyse der bisherigen Herangehensweise des Westens ist ernüchternd: Auf den asymmetrischen und psychologischen Krieg, den moderne dschihadistische Organisationen wie der IS führen, hat der Westen bisher wenig praktikable Antworten gefunden.

 

Mangel an Ressourcen und Mitteln bei den europäischen Geheimdiensten

 

An den naheliegenden Feldern wird seit den Pariser Anschlägen rege gearbeitet. Die Mittel für die europäischen Geheimdienste sollen erhöht werden, die Kooperation der Geheimdienste auf europäischer Ebene ausgebaut. Die Rekonstruktion der Pariser Anschläge hat schnell zu der Erkenntnis geführt, dass auch ein chronischer Mangel an Ressourcen beim belgischen Geheimdienst dazu führte, dass die Polizei die Pläne der Attentäter vom 13. November nicht rechtzeitig durchkreuzen konnte.

 

Mindestens einer der Attentäter war dem belgischen Geheimdienst zwar bekannt, dennoch gelang es ihm mehrere Male, ungehindert nach Syrien auszureisen. Im Nachhinein erscheint es geradezu verwunderlich, dass auf den offensichtlichen Feldern der Terrorbekämpfung – der Polizei- und Geheimdienstarbeit – die Mittel so spärlich waren, dass selbst jene Personen, die als  Gefährder bekannt waren, nicht ausreichend überwacht werden konnten.

 

Eine weitere Erkenntnis ist, dass 6 der 8 Pariser Attentäter französische Staatsbürger waren – ebenso wie zuvor beim Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die jüdische Schule in Toulouse oder das Jüdische Museum in Brüssel. Etliche von ihnen hatten eine kleinkriminelle Vergangenheit, bei manchen hat sich ein Teil des Radikalisierungsprozesses im Gefängnis oder über Schlüsselfiguren der salafistischen Szene abgespielt. Nicht alle der bisherigen Attentäter in Europa haben zuvor auf dem Schlachtfeld mit einer dschihadistischen Organisation gekämpft – für etliche war die Verbindung vielmehr ideologisch als operativ.

 

Das bedeutet auch, dass sich in den meisten Fällen ein bedeutender Teil des Radikalisierungsprozesses über das Internet vollzog. Der IS benutzt die medialen Möglichkeiten des Internetzeitalters wie keine andere dschihadistische Organisation zuvor. Die Terrormiliz setzt auf beispiellose Selbstinszenierungen. Selbstmordattentate werden aus drei Kameraperspektiven gefilmt und hoch aufgelöst ins Netz gestellt. Hinrichtungen folgen einer schockierenden Gewalt-Ästhetik, welche an Filme erinnert, die Teil der globalen Popkultur geworden sind.

 

Das IS-Magazin Dabiq – das bis vor kurzem recht problemlos im Internet heruntergeladen werden konnte – lässt Assoziationen an Modemagazine aufkommen, ein Hochglanzmagazin des Dschihadismus, das den Terror modisch und schick erscheinen lässt. Doch so entscheidend das Internet für die Verbreitung von Propaganda-Material und die Anwerbung neuer Mitglieder für den gegenwärtigen Terrorismus auch geworden ist – eben dort sind moderne dschihadistische Organisationen wie der IS auch am meisten verwundbar.

 

Das Internet ist als Expansionsraum für Terrormilizen womöglich weitaus wichtiger als die Kontrolle über Territorium in der syrisch-irakischen Wüste. Das Verbreitungspotential dschihadistischer Propaganda und die Kommunikationswege von Dschihadisten im Internet einzudämmen, dürfte für die westlichen Geheimdienste zu einer neuen Aufgabe werden.

 

»Sie fürchten unsere Einheit mehr als Luftschläge«

 

Doch neben den praktischen Schritten besserer und erweiterter Geheimdienstarbeit stehen die europäischen Gesellschaften vor einer weitaus komplexeren Aufgabe: Das Radikalisierungspotential, das der IS versucht, innerhalb der europäischen und westlichen Gesellschaften freizusetzen, ins Leere laufen zu lassen. Der kanadische Journalist Murtaza Hussain schreibt auf dem Web-Portal The Intercept: »Das Ziel des IS ist es, die Grauzone der Koexistenz zwischen dem Westen und der muslimischen Welt zu zerstören.«

 

Das taktische Kalkül hinter Anschlägen im Westen ist es, Teile der Mehrheitsgesellschaft zu Racheaktionen gegenüber muslimischen Minderheiten zu verleiten, so Hussain. Im Idealfall würden westliche Politiker für kollektive repressive Maßnahmen gegenüber Muslimen eintreten – wie jüngst der republikanische US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump und zahlreiche islamophobe Bewegungen in Europa – und dadurch ihren Beitrag zu einer Dynamik der Eskalation leisten.

 

Der französische Journalist Nicolas Hénin wurde vom IS in Syrien als Geisel gehalten. Er sagt über das Weltbild und das Kalkül der Dschihadisten: »Entscheidend für ihr Weltbild ist der Glaube, dass nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaften nicht mit Muslimen zusammen leben können.« Die Bilder des vergangenen Sommers aus  Deutschland, als weite Teile der Gesellschaft muslimische Bürgerkriegsflüchtlinge willkommen geheißen hatten, hätte die Dschihadisten verstört. »Sie fürchten unsere Einheit mehr als Luftschläge«, sagt Hénin.

 

»Mehr dumm als böse«

 

Während seiner 10-monatigen Geiselhaft hat Hénin rund ein Dutzend der Dschihadisten, darunter auch einige Europäer, persönlich kennengelernt. Das im Westen verbreitete Bild der Dschihadisten ist ein Produkt ihrer Selbstdarstellung und ihrer PR auf den sozialen Medien, so Hénin. Er beschreibt sie als »mehr dumm als böse – Gangmitglieder, die von Ideologie und Macht berauscht sind.«

 

Verglichen mit dieser Nahaufnahme eines Augenzeugen wirkt die westliche Berichterstattung des vergangenen Jahres fast panisch. Der Gedanke drängt sich auf, dass der exzessive Medienfokus auf den IS der Selbstdarstellungsstrategie der Terrormiliz in die Hände spielt – und sie in ihrer eigentlichen Bedeutung überhöht. Im syrischen Bürgerkrieg geht die absolute Mehrheit der Opfer nach wie vor auf die rücksichtslose Bombardierung ganzer Stadtviertel durch die Luftwaffe des Assad-Regimes zurück.

 

Ein Stopp von Assads Luftwaffe würde die Mehrheit der Opfer in Syrien vermeiden. Nicolas Hénin plädiert für eine komplette Flugverbotszone für alle Kriegsparteien in Syrien, inklusive aller ausländischer Mächte. Dies könnte der erste Schritt zu einer Verhandlungslösung in einem Bürgerkrieg sein, der vor allem durch Parteinahme von außen auf einem solch destruktiven Niveau aufrecht erhalten bleibt.

 

Wie undenkbar ist ein Friedensplan für Syrien?

 

Natürlich müssten die äußeren Mächte, die Teilhaber des syrischen Bürgerkriegs sind, zumindest zu einer provisorischen Übereinkunft kommen, die spätere Verhandlungen möglich macht. Doch womöglich stehen die Zeichen dazu besser als vermutet. Dass der syrische Bürgerkrieg militärisch zugunsten einer Partei gewonnen werden kann, scheint immer unwahrscheinlicher.

 

Zudem ist in den vergangenen Wochen Bewegung in die lange festgefahrenen Haltungen der äußeren Mächte geraten, die in Syrien verschiedene Kriegsparteien unterstützen. Russlands Präsident Putin sucht im Kampf gegen den IS die Annäherung an den Westen, der türkische Präsident Erdogan in der jüngsten Spannung mit Russland die Rückendeckung der NATO. Das saudische Königshaus fürchtet zwar den wachsenden iranischen Einfluss in der Region, nimmt aber zunehmend auch den IS als Bedrohung wahr.

 

Zudem ist die Golfmonarchie in vielerlei Hinsicht vom Westen abhängig, und demnach auf Kompromisse angewiesen. Und ist es fraglich, ob die iranische Regierung den ökonomischen Aufschwung, den die Lockerung der Sanktionen mit sich gebracht hat, durch eine Blockade-Haltung bei einem möglichen syrischen Friedensplan bereit ist aufs Spiel zu setzen. Die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm dienen dabei durchaus als Beispiel, dass eine diplomatische Großoffensive – mit entsprechend langem Atem – zum Erfolg führen kann. Für Nicolas Hénin ist die Hoffnung auf eine politische Lösung unter der syrischen Bevölkerung der effektivste Weg, den IS zu Fall zu bringen: »Sobald die Menschen Hoffnung in eine politische Lösung schöpfen, wird der IS keinen Nährboden mehr haben und kollabieren.«

Von: 
Martin Hoffmann

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