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Der »Islamische Staat« und die politische Ordnung im Nahen Osten

Wem nützt der »Islamische Staat«?

Analyse

Die Gründe für den Aufstieg des IS treiben Forscher, Medien und Regierungen um. Doch warum sollten regionale und globale Akteure überhaupt alles daran setzen, ihm Einhalt zu gebieten, fragen Sophia Hoffmann und Roy Karadag.

Entgegen einem geopolitischen Alltagsdiskurs, demzufolge der »Islamische Staat« (IS) derzeit das größte Übel des Nahen Ostens darstellt, bedient der IS die geostrategischen Interessen aller wichtigen regionalen Akteure. Zusätzlich bedeutet die derzeit sehr unklare Lage in der Region, dass es sich für keinen großen Akteur lohnt, ein Risiko im Kampf gegen den IS einzugehen, ohne zu wissen, ob es sich hinterher tatsächlich für die eigenen Interessen auszahlt.

 

Für das geopolitische Kalkül der regionalen Mächte ist die Hervorhebung der eigenen, strategischen Wichtigkeit, und die dadurch gewonnene Aufmerksamkeit des Westens eine, wenn nicht die zentrale diplomatische Währung, auf der im Grunde genommen die gesamte Machtbalance der Region beruht. Umso mehr lohnt ein Blickauf einige der zentralen Akteure, die sich allesamt als essenzielle Ordnungsmacht bewerben, und ihre strategische Position gegenüber dem IS.

 

Erstens, die syrische Regierung. Die Beteiligung der syrischen Regierung am Aufbau und der Verbreitung der IS ist inzwischen hinreichend belegt. Es gehört schon seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire der syrischen Diplomatie, die eigene Rolle als Bollwerk gegen den islamischen Terror zu betonen. Attentate islamischer Gruppen in Syrien, welche oft genug von der Regierung selbst inszeniert wurden, dienten der Hervorhebung des Risikos einer fundamentalistischen Übernahme Syriens, sollte Assad einmal stürzen.

 

Die Unterstützung für den IS ist das bei weitem ehrgeizigste und risikoreichste Projekt der syrischen Regierung in diese Richtung und hat sich nach den jüngsten militärischen Erfolgen des IS zu einem Spiel mit dem Feuer entwickelt. Doch eine vollständige Vernichtung des IS hätte in jedem Fall eine verheerende Wirkung für das syrische Regime – würde es in diesem Fall doch wieder zum bestimmenden Bösewicht des Syrien-Krieges avancieren.

 

Zweitens, die Kurden. In all ihren parteipolitischen Facetten, vom syrischen PKK-Zweig YPG bis hin zu Barzanis KDP, haben die Kurden durch den IS eine immense geostrategische und diplomatische Aufwertung erfahren. Allen voran wird dies durch die Waffenlieferungen der westlichen Alliierten an die kurdischen Streitkräfte verdeutlicht.

 

Die territoriale Erweiterung Irakisch-Kurdistans im Zuge des Kriegs gegen den IS, insbesondere die Übernahme Kirkuks, des »kurdischen Jerusalems« (welches bis dato offiziell mit der irakischen Zentralregierung geteilt werden musste) wird für die zukünftige kurdische Geschichtsschreibung von außerordentlicher Bedeutung sein. In Syrien haben sich kurdische Bataillone durch ihre siegreichen Kämpfe gegen den IS profilieren können, zudem in einer nie zuvor dagewesenen Einigkeit. Das Auftauchen des IS ist somit dem »Projekt Kurdistan« in vielerlei Hinsicht dienlich gewesen und hat die Unabhängigkeit der kurdischen Außenpolitik unterstrichen. Warum sollte daher eine komplette Zerstörung des IS für die Kurden von Interesse sein?

 

Drittens, Iran. Für den Iran bedeutet der IS einen neuen, flexibel gestaltbaren Verhandlungschip im internationalen diplomatischen Poker. Einerseits lässt sich der Noch-Verbündete Assad über den IS unter Druck setzen, denn: Wenn Assad der persische Geldhahn zugedreht wird, gelingen dem IS Siege gegen die syrische Armee, wie jüngst geschehen in Palmyra. Direkt vor der Übernahme des Orts durch den IS verweigerte der Iran Assad einen wichtigen Kredit, vermutlich im Zusammenhang mit den internationalen Nuklearverhandlungen.

 

Andererseits kann iranischer Einfluss im Irak und Syrien auch gegen den IS verwandt werden, was im Interesse der USA wäre. Da ein entschiedenes iranisches Vorgehen gegen die Terrorgruppe vermutlich sogar unerlässlich für deren Beseitigung wäre, wird Irans diplomatischer Hebel durch den IS um einiges gestärkt.

 

Viertens, Jordanien. Jordaniens Luftstützpunkt Muwaffaq Salti ist einer der wichtigsten Drehkreuze für die internationalen Luftschläge gegen den IS. Die jordanische Regierung, deren Staatshaushalt ohnehin am Tropf westlicher Hilfsgelder hängt, sichert sich durch diese Unterstützung ihre Stellung als unverzichtbarer Bündnispartner der USA.

 

Doch Entwicklungen in der jordanischen Flüchtlingspolitik deuten auf einen traurigeren »Deal« zwischen Jordanien und dem Westen hin: Just mit dem Beginn der Angriffe auf den IS schlossen die Jordanier ihre Grenzen gegenüber syrischen Flüchtlingen, und Kontrollmaßnahmen gegen bereits aufgenommene Syrer haben sich extrem verschärft. Jordaniens Hilfe im Kampf gegen den IS erlaubt es nun der jordanischen Regierung, die von der eigenen Bevölkerung misstrauisch beäugten Hilfsleistungen an Flüchtlinge einzuschränken und populistisch-nationalistische Töne anzuschlagen.

 

Fünftens, Irak. Die Passivität der irakischen Regierung, ihrer Armee und Milizen, stellt sich von außen betrachtet vielleicht am merkwürdigsten dar. Warum sollte eine Regierung mit einer hochausgerüsteten Armee einfach zuschauen, wie eine fanatische Horde wichtige Städte einnimmt, die eigenen Bürger abschlachtet und von ihnen Steuern erpresst? Hier muss man begreifen, dass der Irak längst keine Gesellschaft mehr ist, die durch irgendeine Form der nationalen Solidarität gekennzeichnet ist.

 

Nur im Irak haben Teile der vom IS unterworfenen Gebiete diesen als eine positive Entwicklung begrüßt; die fehlende Motivation der Armee, Mosul zu verteidigen und die resultierende, massenhafte Fahnenflucht sprechen Bände über den Zerfall des irakischen Staats. Dadurch stellt sich den herrschenden Kräften in Bagdad eine totale Vernichtung des IS nicht als oberste Priorität. Stattdessen geht es nun darum, die durch den IS entstandene, neue Machtkonstellation möglichst geschickt zu nutzen. In diesem Kontext wird wohl niemand seine militärischen und finanziellen Hilfsleistungen an die pro-schiitische Regierung stoppen, zumal eine Verhinderung von Unordnung im Restirak sowohl im westlichen als auch im russischen und iranischen Interesse ist.

 

Sechstens, Saudi-Arabien, die Golfmonarchien und die Türkei sind aktive Bestandteile der Anti-IS-Allianz und bekräftigen ihr Engagement diskursiv mit durchaus angemessenen und immer wiederkehrenden Bekundungen, dass der IS kein legitimer Ausdruck des sunnitischen Islams sei. Was aber nicht dafür sorgt, diesen mehr als nur ideologischen Gegner mit aller Macht zu bekämpfen. Auch hier schlägt strategisches Kalkül jede normative Praxis.

 

Vor allem trägt hier eine gegenseitige opportunistische Berechnung über Erwartungen und Überlegungen der anderen Akteure zu einer abwartenden Position bei. Denn viel wichtiger als der Sieg über die Terroristen, der ja prinzipiell durchaus zu einem Anstieg an Anerkennung und Legitimität führen könnte, ist es für diese Staaten, einen möglichst zentralen Platz in den Ordnungssicherungsplänen der USA zu erreichen. Hierzu dient die Anti-IS Allianz hervorragend, und ihr Ende würde zunächst einmal ein Unsicherheitsfaktor in dieser Hinsicht bedeuten – wer würde weiterhin wichtig bleiben und inwieweit?

 

Darin zeigt sich, dass das Auftauchen des IS vor allem eine bestehende Situation verstärkt, in der die Zunahme konfessioneller Kriege und gewalttätigen Chaos, für deren Dynamisierung die selbsternannten Vertreter sunnitischer Interessen mitverantwortlich sind, die westlichen Großmächte immer stärker an diese Gruppe von Staaten bindet. Um diese Bindung zu halten – vor allem in Zeiten einer drohenden amerikanischen Erdöl-Autarkie – müssen diese sunnitischen Regionalmächte demonstrieren, dass sie Einfluss über sunnitische Bevölkerungen und Gewaltakteure ausüben können.

 

Gewalteskalation führt also mitnichten zu einer Schwächung von diesen auch in Zukunft potenziell machtvollen Akteuren. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir argumentieren nicht, dass eine perfide Verschwörung den IS in den letzten Jahren gezielt aufgebaut hat, um bestimmten Interessen zu dienen. Doch mit dem Erscheinen des IS verhält es sich nun so, dass es für keinen der großen, regionalen Akteure von intrinsischem Interesse ist, die erforderlichen finanziellen und militärischen Ressourcen zu mobilisieren, um den IS gänzlich zu besiegen. Nicht nur erkennt man, dass man seit dem Sturm auf Mosul im Sommer 2014 geostrategisch vom IS profitieren kann. Darüber hinaus will man sich in einer potenziellen Endschlacht selbst nicht verausgaben, da zum jetzigen Zeitpunkt niemand mit Genauigkeit bestimmen kann, wer sich durch ein Ende des IS am ehesten profilieren und die militärischen Vorleistungen der anderen Allianzteilnehmer am effektivsten ausnutzen kann. Da man nicht weiß, wie die Verteilung regionaler Macht in einer Zeit nach dem IS aussehen mag, bleibt eine anstrengende militärische Mobilisierung für jeden einzelnen Akteur irrational. Ohne wirksame Ansätze einer politischen Bewältigung der bestehenden territorialen und ideologischen Konfliktpunkte wird sich an dieser Dynamik auch nichts ändern.


Dr. Sophia Hoffmann und Dr. Roy Karadag sind Wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen.

Von: 
Sophia Hoffmann und Roy Karadag

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