Während Politiker sich über die Zukunft Jerusalems in den Haaren liegen, haben andere konkretere Probleme: Wie kann man Menschen helfen, das göttliche Licht zu schauen? Und wie wird man den Wahnsinn wieder los? Eine Geschichte des Jerusalem-Syndroms.
Als Noah, ein junger amerikanischer Student, sich dazu entschied, seine Sommerferien in Israel zu verbringen, ahnte er nicht, dass er wenige Monate später nackt durch die Straßen von Jerusalem laufen würde, nur mit einem Umgang hintendran, ein großes Schwert in der rechten Hand und die Menge ordnend, um den Weg für den auferstandenen König David freizumachen. Als er ins Krankenhaus zwangseingeliefert worden war und von Psychiatern über sein Verhalten befragt wurde, erklärte er geduldig, dass er keine andere Wahl hatte, als zurückzukehren, um in der Stadt wieder Ordnung herzustellen, die sie über die Jahre verloren hatte, weswegen sie geradewegs auf ihre Zerstörung zusteuerte.
Das »Jerusalem-Syndrom«, erstmals 1930 beobachtet, ist ein recht einzigartiges psychologisches Phänomen. Es tritt bei Touristen auf, die beim Besuch der Heiligen Stadt anfangen zu glauben, sie hätten eine religiöse Berufung. Nach einer Erhebung aus den 1990er Jahren wurden jedes Jahr etwa 100 Menschen mit solchen Symptomen in Kliniken eingeliefert. Menschen, die am Jerusalem-Syndrom leiden, beschreiben gewöhnlich einen Offenbarungsmoment, in dem eine Stimme ihnen erzählt, dass sie den Lauf der Geschichte ändern und die Welt erlösen könnten. Viele glauben, sie seien biblische Figuren.
Die Fachwelt ist nicht ganz einig, wie sie das Jerusalem-Syndrom bewerten soll. Während einige Fachleute der Ansicht sind, dass das Syndrom als eigenständige psychische Erkrankung gelten sollte, widersprechen andere: Die Symptome seien mit denen klassischer Erkrankungen wie paranoider Schizophrenie oder manischen Schüben bei einer bipolaren Depression kompatibel.
Entgegen landläufiger Meinung werden psychisch gesunde Touristen gewöhnlich nicht vom Jerusalem-Syndrom befallen. Die meisten Patienten bringen bereits eine Krankheitsgeschichte mit.
Diese Erkrankungen beinhalten häufig Anfälle von Größenwahn; das einzige unverwechselbare Merkmal des Jerusalem-Syndroms sei der Inhalt der Wahnvorstellungen, der sich aus dem religiösen und mythischen Charakter der Stadt Jerusalem ableitet. Ob eine Person nun glaubt, sie sei Jesus oder Elvis, reiche jedoch nicht dafür aus, vollkommen unterschiedliche psychiatrische Diagnosen zu stellen. Entgegen landläufiger Meinung werden psychisch gesunde Touristen gewöhnlich nicht vom Jerusalem-Syndrom befallen. Die meisten Patienten bringen bereits eine Krankheitsgeschichte mit.
Das war auch bei Michael Dennis Rohan der Fall, einem australischen Touristen, der 1969 versuchte, die Al-Aqsa-Moschee niederzubrennen, um das Christentum wieder zur dominierenden Religion in Jerusalem zu machen. Die Geschichte wurde bekannt, als muslimische Parteien die israelischen Behörden für das Verbrechen verantwortlich machten, was beinahe zu einer ernsten politischen Krise geführt hätte. Um das zu verhindern, wurde Rohans Identität bekannt gegeben und eine Erklärung seines australischen Psychiaters veröffentlicht, die bezeugte, dass der Patient an einer Psychose litt.
In ihrem kürzlich auf Hebräisch veröffentlichten Buch »Jerusalem. Eine Stadt von Heiligkeit und Wahnsinn« präsentieren Moshe Kalian und Eliezer Witztum eine historische und psychiatrische Analyse, die auf über 25 Jahren Forschung basiert. Das Buch attackiert einerseits Mythen wie die Behauptung, der russische Autor Nikolai Gogol hätte an dem Syndrom gelitten, andererseits beschreibt es die historisch-ökonomischen Prozesse, die es Jerusalem erlaubten, ein so wichtiger Ort für drei der größten Religionen unserer Zeit zu werden.
»Das wichtigste Merkmal von Florenz ist Schönheit und Ästhetik, beim Weißen Haus ist es Macht und Prunk, in Venedig erleben wir ein starkes Gefühl von romantischem Untergang, inspiriert von der Literatur, und in Jerusalem sind Heiligkeit und Erlösung die herausragenden Charakterzüge.«
Die Autoren stellen das Jerusalem-Syndrom in eine Reihe mit anderen psychogeografischen Phänomenen: Das »Paris-Syndrom« ist am geläufigsten unter japanischen Touristen,die zusammenbrechen, wenn sie mit der Realität dieses mythisierten westlichen Symbols von Schönheit und Anmut konfrontiert werden. Das »Tod-in-Venedig-Syndrom« bezieht sich auf die hohe Rate von Touristen, die nach der Ankunft in Venedig Selbstmordversuche unternehmen; eine Analyse ihrer Abschiedsbriefe machte deutlich, wie viele von Thomas Manns Buch beeinflusst waren.
Weitere Städte mit eigenen psychologischen Referenzen sind zum einen Florenz mit dem »Stendhal-Syndrom«, benannt nach dem französischen Schriftsteller, der als erster aufgrund der Konfrontation mit der gewaltigen Schönheit der zahllosen Kathedralen der Stadt kollabierte; zum anderen Washington, dessen »Weißes-Haus-Syndrom« diejenigen beschreibt, die die US-Hauptstadt nicht verlassen wollen, ohne mit einem hochrangigen Politiker gesprochen zu haben, da sie überzeugt sind, dass sie die Lösung für eine oder mehrere politische Großprobleme haben.
Die psychogeografische Perspektive untersucht das Verhältnis zwischen dem individuellen Unbewussten und spezifisch mythisierten Orten. »Einige Orte in der Welt haben symbolische Darstellungen«, heißt es bei Witztum. »Das wichtigste Merkmal von Florenz ist Schönheit und Ästhetik, beim Weißen Haus ist es Macht und Prunk, in Venedig erleben wir ein starkes Gefühl von romantischem Untergang, inspiriert von der Literatur, und in Jerusalem sind Heiligkeit und Erlösung die herausragenden Charakterzüge.«
Natürlich bleibt ein Unterschied zwischen Freuds Erfahrung und der eines Mannes, der in die Lobby des Plaza-Hotels in Jerusalem geht und Menschen ihre Brille wegnimmt, um ihnen auf diese Weise zu ermöglichen, das göttliche Licht zu schauen.
Der erste, der ein derartiges psychogeografisches Phänomen bemerkte, war Sigmund Freud. Bei einem Besuch der Akropolis in Athen machte er die Erfahrung eines beunruhigenden Gefühls, das er als »Derealisation« bezeichnete; er war so erstaunt, an diesem Ort zu sein, über den er so viel gelesen hatte, dass er nicht glauben konnte, tatsächlich dort zu sein. In einem Brief, den er Jahre später an den französischen Schriftsteller Romain Rolland zu dessen 70. Geburtstag schrieb, erinnerte er sich an die Details dieses sehr intensiven Gefühls, in zwei unterschiedliche Wesen aufgeteilt zu sein: eines, das den Kontakt zur äußerenrationalen Realität verlor, und eines, das gleichzeitig erstaunt war über die Idee, solche Zweifel haben zu können hinsichtlich der Wahrnehmung von etwas, das direkt vor ihm war.
Natürlich bleibt ein Unterschied zwischen Freuds Erfahrung und der eines Mannes, der in die Lobby des Plaza-Hotels in Jerusalem geht und Menschen ihre Brille wegnimmt, um ihnen auf diese Weise zu ermöglichen, das göttliche Licht zu schauen. Im zweiten Fall, so wird deutlich, fehlen die rational-kritischen Überlegungen; der Mann wurde von seinen unrealistischen Fantasien fortgerissen.
Dies zeigt den Unterschied zwischen Psychose und Neurose. Die meisten neurotischen Menschen, wie Freud selbst, unterdrücken unerträgliche Gedanken und Gefühle, indem sie sie tief in ihrem Unbewussten ablegen. Aber sie verschwinden niemals ganz. Sie werden vielmehr ersetzt, etwa durch Träume oder durch psychische oder physische Symptome. So können unerträgliche Gedanken ausgedrückt und in subtilere Formen übertragen werden. Das normale Leben kann weitergehen.
Für jemanden, der in einer solchen irrationalen, angsterfüllten Welt gefangen ist, spielen Wahnvorstellungen wie Stimmen, die behaupten, dass er oder sie der neue Messias sei, eine entscheidende beschützende Rolle.
Psychosen dagegen basieren auf einem völlig anderen Mechanismus: Unerträgliche Gefühle und Gedanken werden ins Unbewusste verbannt – und hinterlassen so im Alltag keine Spur. Um die immer größer werdende Distanz zwischen der Realität und dem hermetisch abgeschlossenen Unbewussten aufrecht zu erhalten, wird jedoch eine große Menge an Energie benötigt. Wenn diese Distanz zu groß wird, können Menschen, die auf diese Weise agieren, den Sinn für die logische Realität verlieren und in eine Welt der unbewussten Fantasien abgleiten.
Für jemanden, der in einer solchen irrationalen, angsterfüllten Welt gefangen ist, spielen Wahnvorstellungen wie Stimmen, die behaupten, dass er oder sie der neue Messias sei, eine entscheidende beschützende Rolle. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass Patienten unter Depressionen leiden, wenn sie aus einer Psychose auftauchen – gewöhnlich, nachdem sie antipsychotische Medikamente erhalten haben. Diese wahnhaften Welten aufzugeben, ist ein sehr schmerzhafter Prozess. Wie es ein Patient beschrieb, der sich vom Jerusalem-Syndrom erholte: »Ich hatte eine Mission, und jetzt bin ich einfach bloß ein Kranker.«
Daphna Kashtan ist Klinische Psychologin und spezialisiert auf transkulturelle Psychologie. Sie stammt aus Haifa, studierte in Tel Aviv und Aix-en-Provence und lebt zurzeit in Berlin.