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Buch von Saif Badawi

Gefährliche Gedanken

Feature

Ein Blogger bietet Saudi-Arabien die Stirn. Raif Badawi wurde für seine Äußerungen über das Verhältnis von Islam und Staat drakonisch bestraft. Seine Kolumnen bestechen mit Witz und Offenheit – nun sind sie als Buch auf Deutsch erschienen.

Da schreibt einer mit offenem Visier gegen den real existierenden Islamismus in Saudi-Arabien an. Mit Wut, Pathos und Sarkasmus. Raif Badawis Texte wirken manchmal etwas naiv, gerade wenn man weiß, wie sehr alle Menschen in seiner Heimat ihre Worte abwägen, um Konflikte tunlichst zu vermeiden. Andere wählen den Weg der Emigration. Beides, schreibt Badawi, sei für ihn nicht infrage gekommen und so ist sein Weg keinesfalls naiv sondern höchst mutig.

 

Und er hat ihn direkt ins Gefängnis geführt. Raif Badawi hat seine Kolumnen zum Verhältnis von Staat und Religion im Internet publiziert – und die Reaktion des saudischen Staates ließ nicht lange auf sich warten: Zehn Jahre Haft, eine Geldstrafe von fast 200.000 Euro und die 1000 Peitschenhiebe, die nun auch als etwas marktschreierischer Titel für das Buch dienen. Nun ist Badawi kein Philosoph mit einem bis ins Detail geformten Weltbild: Man kann ihn quasi in Echtzeit beim Denken beobachten, wenn man seine Texte liest.

 

Diese Unmittelbarkeit, die entwaffnende Offenheit Badawis ist die große Stärke seiner Blogeinträge. Seine Streitschrift ist ein Plädoyer für einen liberalen Staat. Dieser Staat, schreibt er, sei ein Staat ohne Religion. Da schreien die konservativen Hüter des wahabitischen Staatsislams in Saudi-Arabien natürlich sofort auf: »Ketzerei!« – Sie täten besser daran, weiterzulesen, denn Badawi schiebt ein, dass dieser Staat – bei Gott – nicht atheistisch sei, er formuliert kluge Gedanken, worauf ein die Freiheit der Individuen achtender Staat in der arabischen Welt fußen könnte. Und er fragt sich – eher zweifelnd –, inwieweit die Aufklärung in Europa Vorbild sein könne. Seine Gedanken sind nicht abgeschlossen – endgültige Antworten liefert Badawi nicht, das widerspräche auch seiner Idee vom Liberalismus.

 

Die von Saudi-Arabien längst gelöschten Blogeinträge Badawis laden ein, weiterzudenken, Zustimmung oder Widerspruch zu äußern. Mit ungeschminkter Kritik prangert er die praktizierte Frauenverachtung in Saudi-Arabien an und die unheilvolle Fortschrittsfeindlichkeit: Dabei schreibt er durchaus elegant und bedient sich unterschiedlicher Stilmittel. Als ein Islamgelehrter fordert, die Astronomie in ihre Schranken zu verweisen, kann er sich den Spott nicht verkneifen.

 

Badawi schreibt: »Deswegen möchte ich hiermit der NASA ans Herz legen, ihre Teleskope doch liegen zu lassen und stattdessen vom Wissen unserer Scharia-Astronomen zu profitieren, deren Scharfsicht und Scharfsinn die Sehkraft dieser verderbten NASA-Teleskope bei Weitem übertrifft.« Der Humor hat Badawi auch während der Haft offenbar nicht verlassen: Im Vorwort, das er seiner Frau aus dem Gefängnis heraus diktiert haben soll, schwärmt er davon, dass ihm die Ideen nur so zuflögen ... während er sein Geschäft erledige.

 

An den Wänden der Toilette findet er auch, neben hunderten vulgären Kritzeleien, den Satz: »Der Säkularismus ist die Lösung!« – eine Anspielung auf den Slogan der Muslimbrüder: »Der Islam ist die Lösung.« Eine Abwandlung dieser Losung hatte auch schon der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswany gewählt. Seine Zeitungskolumnen, mit denen er gegen das Mubarak-Regime anschrieb, endeten stets mit dem Satz: »Demokratie ist die Lösung!«

 

Bei Badawi aber schwingt immer auch der Zweifel mit, die Suche nach dem richtigen Weg: »Welcher Liberalismus ist die Lösung?«, könnte als Leitfrage für seine Posts dienen. Nun fragt sich, ob es Badawi hilft, wenn seine Blogeinträge als dünnes Büchlein auf Deutsch erscheinen. Realpolitische Bedenkenträger mögen einwenden, es bestehe die Gefahr, dass Badawi doch noch zum Tode verurteilt werde, wenn sein Prozess neu aufgerollt wird.

 

Zu viel Aufmerksamkeit sei da eher schädlich. Das sind wohlgemerkt die gleichen Leute, die stillschweigend gutheißen, dass Saudi-Arabien im Jemen mit Bomben für Stabilität sorgen will: Seriös ist nicht vorherzusehen, ob die Veröffentlichung auf Deutsch das Schicksal Badawis in irgendeiner Form beeinflusst. Sicher ist aber: Badawis Ideen gehören an die Öffentlichkeit. Seine Texte sind ein Aufruf zum freien Denken, sie haben es verdient übersetzt, verbreitet und diskutiert zu werden. Am besten irgendwann auch in Saudi-Arabien.

 


1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke

Raif Badawi

Herausgegeben von Constantin Schreiber, aus dem Arabischen von Sandra Hetzl

Ullstein, 2015, 64 Seiten, 4,99 Euro

 
Von: 
Moritz Behrendt

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