Josef Chajim Brenner ist fast hundert Jahre tot und dennoch en vogue. Die Historikerin widmet der Ikone der hebräischen Kultur eine Biographie und zeigt, wie er zum generationenübergreifenden Spiritus Rector werden konnte.
Zwischen seiner Geburt in der Wald- und Seenlandschaft des nordukrainischen Städtchens Novi Mlini und seinem Tod unweit von Jaffa, in den Orangenhainen von Abu Kabir – heute Givat Herzl –, lagen gerade einmal 40 Jahre. In diesen vier Jahrzehnten avancierte Josef Chajim Brenner zur Ikone der israelischen Kultur. Anita Shapira hat ihm eine monumentale Biographie gewidmet.
Nun liegt diese auf Englisch vor: »Yosef Haim Brenner – A Life«. Obwohl ein Leben untertrieben ist. Es waren viele Leben in einem kurzen, die Brenner lebte. Er, der die dogmatischen Theoretiker, die mit ihm während der zweiten Alija ins Land eingewandert waren, verteufelte und die Landwirte der im Entstehen begriffenen Bauernkommunen indes als »mit der Bescheidenheit verborgener Gerechter, chassidischem Feuer und zielstrebigem Fleiß Begnadete« verehrte.
»Leuchtfeuer für alle«
Shapira zeichnet nicht nur anhand neuer Quellen die frühen Wanderjahre Brenners durch Osteuropa – Potschep, Homel, Bialstok, Warschau – nach, oder die literarisch ergiebige Schaffensperiode zwischen seiner Flucht aus der zaristischen Armee bei Ausbruch des russisch-japanischen Krieges 1905 bis hin zu seiner Übersiedlung in die osmanische Provinz Palästina im Jahre 1909. Die Historikerin zeigt auch, welche Bedeutung Brenner heute hat. Ihr Fazit: »In diesen Zeiten der sozialen Umwälzungen suche junge Menschen Brenner sehnsuchtsvoll als Symbol für Reformen – und Leuchtfeuer für alle.«
Diese Fragestellung und Feststellung, so banal sie auf den ersten Blick klingen mag, ist genial. Der Mensch und Literat Josef Chajim Brenner gilt bis heute als Säulenheiliger des Arbeiterzionismus, wobei er diesen, wie alle anderen »gesellschaftlichen Bewegungen«, verachtete – und gleichsam für Erez Jisrael lebte.
Ein Leben – viele Interpretationen
In seinen Erzählungen verschmolzen Lebens- und Schaffensgeschichte, die eigene Vita war der Steinbruch seines Schreibens und ist Quelle der Inspiration für mehrere Generationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein Leben – viele Interpretationen. Für die jungen Pioniere der dritten Alija war er ein ideologischer Spiritus Rector, der für die Harmonie zwischen Wort und Tat stand, für die Schriftstellergeneration um Aharon Appelfeld, Natan Zach und Jehuda Amichai, die sich dem Altermannschen Pa- und Ethos verweigert(e), war Brenner nicht nur literarischer Übervater, sondern auch individualistischer Existenzialist, der die gesellschaftliche Autorität in Frage stellt.
Für religiöse Kibbuzniks dient(e) Brenner als Häretiker, der die akzeptierten Normen hinterfragte und nach einer mystischen Realität der israelischen Wirklichkeit Ausschau hielt. Post-Zionisten glauben hingegen in seinen Schriften den Beweis für die Schwäche des Zionismus zu finden. Diese divergierenden Interpretationen des Brennerschen Werkes führt Anita Shapira zusammen und schafft so ein Panorama der israelischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte.
Yosef Haim Brenner – A Life
Anita Shapira
Stanfort University Press, 2014
488 Seiten, 75 USD