Lesezeit: 9 Minuten
Bildungswesen in Afghanistan

»Wir lernen gerade erst wieder zu gehen«

Interview

Zwei afghanische Hochschullehrer über die explodierenden Studierendenzahlen in ihrer Heimat, die Sicherheitslage an den Universitäten und den Brain-Drain einheimischer Akademiker.

In der afghanischen Verfassung ist der freie Zugang zu Bildung für alle festgeschrieben. Dennoch beträgt das Haushaltsbudget für alle 22 staatlichen Universitäten gerade einmal 35 Millionen US-Dollar. Wo sehen Sie die größten Hürden, allgemeinen Zugang zu höherer Bildung zu schaffen?

Mohammad Nasir Haider: Wir haben an den staatlichen Universitäten zu wenig Kapazitäten, sodass wir nicht alle Bewerber aufnehmen können. In manchen Fächern unterrichten wir in Schichten bis in die Nacht hinein. Das führt dazu, dass die privaten Hochschulen enormen Zulauf haben. Doch die Ausbildung dort genügt nur in den wenigsten Fällen den sonst geltenden Standards in Afghanistan.

 

Ein Ziel der afghanischen Regierung lautet, die Zahl der Studierenden 2014 fast zu verdoppeln, von 62.000 auf 115.000. Wächst die Zahl auch an der Balch-Universität in Masar-i-Sharif, an der Sie beide lehren?

Haider: Das im Bildungsplan genannte Ziel bedeutet nicht, die Zahl der Studenten an den Universitäten zu verdoppeln. Von den derzeit gut 60.000 Studierenden besuchen nämlich rund ein Drittel andere höhere Bildungseinrichtungen wie Colleges. Zunächst soll die Zahl der Studierenden an diesen Einrichtungen gesteigert werden. Um allerdings der geringen Aufnahmefähigkeit der Unis bei steigenden Bewerbungszahlen entgegenzuwirken, stellt die afghanische Regierung jährlich fünf Millionen Dollar zusätzlich zur Verfügung, für die Einstellung neuer Lehrkräfte und die Anschaffung von Lehrmaterialien. Yama Sharaf: Die Balch-Universität expandiert und arbeitet am Regierungsziel mit. In den kommenden Jahren werden wir fünf neue Fakultäten gründen. Und mit jeder neuen Fakultät kommen mehr Studierende an die Universität. Sobald wir den neuen Campus beziehen, wird für sie auch genügend Platz vorhanden sein.


Prof. Dr. Mohammad Nasir Haider ist Vizekanzler an der Balch-Universität in Masar-i-Scharif. Der 62-Jährige lehrt Geologie und Geophysik an der Fakultät für Ingenieurswesen. 

 

Prof. Dr. Yama Sharaf ist Dekan der Fakultät für Öffentliche Verwaltung und Politik. Seit 1998 lehrt der 41-Jährige an der Balch-Universität.


 

Man hört immer wieder von Angriffen auf Schulen und Universitäten in Afghanistan. Wie ist die Lage im Norden? Ist die Balch-Universität Ziel von Anschlägen?

Sharaf: Die Sicherheitslage im Norden ist im Vergleich zu anderen Regionen Afghanistans sehr gut. Auch die Frauen kommen ungehindert zum Studieren. Es gab keinerlei Attacken oder verdächtige Vorkommnisse in der Universität. Haider: Einer der Gründe für die gute Sicherheitslage im Norden ist die funktionierende Zusammenarbeit von Armee, Polizei und den Sicherheitskräften der Regionalregierung von Balch.

 

Ziehen Sie an Ihrem eigenen Fachbereich, der Fakultät für Öffentliche Verwaltung, auch den akademischen Nachwuchs heran?

Sharaf: Wir haben erst vor eineinhalb Jahren mit dem Studiengang begonnen. Die ersten Bachelorabsolventen werden also erst in zweieinhalb Jahren abschließen.

 

Wo haben Ihre Mitarbeiter dann ihre Abschlüsse erworben?

Sharaf: Unter allen Mitarbeitern des Fachbereichs Öffentliche Verwaltung hat niemand einen Abschluss in diesem Studiengang. Gemäß ministerieller Richtlinien haben wir unter den Absolventen unsere Dozenten aus den Fächern Politikwissenschaft, Wirtschaft und Sozialwissenschaft ausgewählt – mit der Perspektive, dass sie einen Master-Abschluss im Bereich Verwaltungswesen an einer ausländischen Universität nachholen. Dazu laufen mehrere Programme in Zusammenarbeit mit dem DAAD oder der GIZ. Einer unserer Lehrenden erhielt seinen Master beispielsweise an der Universität in Konstanz. Im Schnitt ist unser Team jünger als 30 Jahre.

 

Wie sieht es bei den Professoren aus? Erhalten alle ihren Doktortitel im Ausland?

Haider: Ganz richtig. All unsere Lehrkräfte haben sowohl ihren Master wie auch ihren Doktor im Ausland erworben, insbesondere diejenigen, die in den technischen Studiengängen lehren.

 

Sie haben bereits gesagt, dass mehr Platz und gut ausgebildetes Lehrpersonal nötig sind. Was benötigt die Balch-Universität denn am dringendsten?

Sharaf: Wir sind wie ein Kind, das auf den Boden gefallen ist. Die internationale Gemeinschaft kam und half uns auf die Beine. Aber um wieder selbständig die ersten Schritte zu gehen, sind wir weiterhin auf ihre Hilfe angewiesen. Daher fordern wir, dass sie uns nicht auf halber Strecke alleine lässt. Wir brauchen Unterstützung bei der Infrastruktur, der Schaffung neuer Kapazitäten, bei Lehrmitteln. Es ist unmöglich, sich auf einen einzelnen Punkt festzulegen. Gleichzeitig muss ich sagen: Was unsere neue Fakultät angeht, sind alle Bedürfnisse bislang erfüllt worden beziehungsweise werden noch erfüllt. Allein ein Masterprogramm fehlt noch.

 

Welchen Anteil hat der Bildungssektor daran, die Wirtschaft wieder anzukurbeln – gerade in Ihrer Region?

Sharaf: Wenn wir gut ausbilden, werden die Studenten die Universität mit guten Fähigkeiten verlassen. Noch vor wenigen Jahren waren wir auf externe Expertise für unsere Verwaltung in Afghanistan angewiesen. Doch mittlerweile können wir unsere eigenen Beamten ausbilden. Das Geld, das wir früher an die ausländischen Experten gezahlt haben, fließt nun an die Einheimischen – auch wenn die Gehälter natürlich niedriger sind. Das kommt schließlich auch der lokalen Wirtschaft zu Gute.

 

Der DAAD hat in neun Jahren 2.500 junge Afghanen zum Studium an deutsche Unis geholt. Viele dieser gut ausgebildeten Kräfte kehren ihrer Heimat für immer den Rücken. Was kann man diesem Brain-Drain entgegensetzen?

Sharaf: Eines der Probleme, mit dem die Rückkehrer konfrontiert sind, sind die niedrigen Gehälter im öffentlichen Sektor. Manche der Absolventen bewahren sich ihren patriotischen Geist und wollen ihrem Land dienen. Da sie aber offenkundig über mehr Fähigkeiten verfügen als ihre Kommilitonen, die in Afghanistan studiert haben, versuchen die Angestellten in den Amtsstuben oft ihre Anstellung zu verhindern.

 

Mit welchen Mitteln?

Sharaf: Zum Beispiel lautet eine gängige Bedingung bei Stellenausschreibungen drei bis vier Jahre Berufserfahrung. Das ist ein Hindernis bei der Jobsuche. – Eine andere Facette des Problems ist, dass die Absolventen aus dem Ausland eine komplett andere Sicht auf ihr Land mitbringen und sich entfremdet haben. Haben sie einmal die Freiheit in Deutschland oder einem anderen Land kennen gelernt, fällt es ihnen schwer, nach Afghanistan zurückzukehren.

 

Welche Rolle kann die Universität dabei spielen, die jungen Leute zurückzuholen?

Haider: Vakante Stellen schreiben wir im Internet aus. Dabei geben wir Promovierten den Vorrang, die im Ausland studiert haben. Und wir versuchen, gerade auch Master-Absolventen zu ermutigen, bei uns an der Universität zu unterrichten. Wenn Sie Ihren Blick in die Zukunft richten: Denken Sie, dass sich der Abzug der internationalen Streitkräfte auf die Universität in Masar-i-Scharif auswirken wird?

 

Haider: Solange die afghanischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage sind, Sicherheit und Frieden im Land aufrechtzuerhalten, können die internationalen Kräfte nicht gehen. Ebenso wenig können sie abziehen, solange wir es noch nicht bewerkstelligt haben, unsere Jugend selbst auszubilden. Wir machen jedes Jahr Fortschritte. Wir sind für die Zukunft gewappnet. Dennoch benötigen wir die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, im wirtschaftlichen wie im militärischen Bereich. Die Afghanen dürfen sich selbstverständlich nicht auf dieser Hilfe ausruhen. Wir müssen es aus eigener Kraft schaffen – aber mit internationaler Unterstützung.

Von: 
Ruben Schenzle

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.