Lesezeit: 10 Minuten
Ausstellung über Tscherkessen in Hamburg

Mehr als Reiterkrieger und Haremsdamen

Feature

Das Hamburger Museum für Völkerkunde richtet mit »Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht« den Fokus auf ein wenig bekanntes Volk. Auch nach den Winterspielen von Sotschi verlieren die Themen der Ausstellung nicht an Brisanz.

Großgewachsen, schlanke Taille, glatte Haut: Nackt steht die junge Frau vor dem Betrachter. Ihre Scham lediglich bedeckt von einem weißen, fast durchsichtigen Tuch, das sie in den Händen hält. Der Titel: »Tscherkessin im Bad«. Der Stahlstich nach einem Gemälde von Merry-Joseph Blondel zeigt ein Sujet, das im 19. Jahrhundert unter europäischen Künstlern wie Jean-Auguste-Dominique Ingres oder Giulio Rosati beliebt war: Bad und Harem. Der Privatbereich wurde nicht selten von Kaukasierinnen bewohnt.

 

Die »schöne Tscherkessin« galt im Westen des 19. Jahrhunderts als ein Ideal: eine makellose, weiße Haut und volle, dunkle Haare. Auf der anderen Seite stand die Vorstellung vom Tscherkessen als einem edlen »Reiterkrieger« aus dem Kaukasus. Inwieweit diese Bilder der Realität im 19. Jahrhundert entsprechen, das zeigt derzeit eine Ausstellung im Hamburger Museum für Völkerkunde: »Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht«, so ihr Titel, will »eines der ältesten Völker Europas« in Deutschland neu bekannt machen.

 

Der Anlass sind die Winterspiele von Sotschi vom Februar 2014. Die russische Schwarzmeerküste war bis 1864 die Heimat der Tscherkessen. »Tscherkessen« ist freilich eine Fremdbezeichnung, die wohl aus dem Türkischen oder Mongolischen stammt. Sie selbst nennen sich »Adyghen«. Vor genau 150 Jahren, im Mai 1864, standen sich oberhalb von Sotschi, der damaligen Hauptstadt der Tscherkessen, russische Truppen und ihren kaukasischen Gegnern zu einem allerletzten Kampf gegenüber.

 

Der Sieg der Zarenarmee bedeutete das Ende eines hundertjährigen Krieges, in dem sich die muslimischen Kaukasier gegen die Fremdherrschaft der Russen gewehrt hatten. Da die Tscherkessen besonders lang Widerstand geleistet hatten, wiesen die Russen sie, Abchasen und andere feindlich gesinnte Völker aus ihrer Heimat aus. Bis zu einer Million Menschen, fast 90 Prozent der tscherkessischen Bevölkerung, mussten mit Schiffen über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich emigrieren. Über 100.000 Vertriebene verloren dabei ihr Leben. In die eroberten Gebiete zogen auf Erlaubnis Moskaus Russen, Ukrainer, Griechen, Georgier und Armenier.

 

Die größte Tscherkessen-Ausstellung außerhalb Russlands

 

»Die Hamburger Ausstellung ist die erste große außerhalb Russlands zu den Tscherkessen«, so Carl Triesch aus der Projektleitung des Museums für Völkerkunde. Tscherkessische Vereine in Europa hätten zwar schon kleine Schauen im Rahmen ihrer jährlichen Treffen organisiert, doch eine solche wie in Hamburg habe es bisher noch nicht gegeben. Die Macher dieser Ausstellung wollen zweierlei: Die Jahrtausende alte Historie der Tscherkessen bis in die Gegenwart nachzeichnen.

 

Zugleich sollen die Besucher Alltag und Kultur des kaukasischen Volkes neu entdecken. Die Schau ist zwar klein, macht das aber mit einer guten Mischung von Angeboten wett. »Wer sind die Tscherkessen?«, »Geschichte«, »...in alle Winde verweht«, »Gebirge der Sprachen«, »Abchasen«, »Traditionelles Leben« und »Reiterkrieger und Haremsdamen« lauten die Überschriften der sechs Bereiche, in die die Ausstellung aufgeteilt ist. In ihnen stoßen die Besucher auf seltene, wertvolle Objekte, die meist Privatbesitzer zur Verfügung gestellt haben: 30 bis 50 Zentimeter lange Dolche, die, wie man auf Infotafeln lesen kann, »nicht nur Waffe, sondern auch Teil der Kleidung« waren.

 

Das Zusammenfließen verschiedener Kulturen ist an den Dolchen gut sichtbar: Gerade und gekrümmte, ein- und mehrrillige Klingen etwa aus dem Iran mit versilberten oder vergoldeten Griffen, die europäische Ornamentik oder eigene, tscherkessische Muster aufweisen. Daneben sieht man Kettenhemden aus dem Kaukasus und dem Iran aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Säbel und Armschienen, Pulverhorn und Schusswaffen.

 

Auch eine über hundert Jahre alte »Tscherkesska« – das ist ein langer, eng anliegender Leibrock aus Wolle mit Patronentaschen auf Brusthöhe. Diesen Rock übernahmen später auch andere kaukasische Völker. Und dann springt einem noch etwas anderes ins Auge: der fein gearbeitete »Säbel des Imam Schamil«, ein Geschenk der iranischen Herrscherfamilie der Kadscharen. Imam Schamil führte über 20 Jahre, bis zu seiner Niederlage 1859, die muslimische Bevölkerung Dagestans und Tschetscheniens gegen die russische Besatzung an.

 

»Der Imam konnte die Tscherkessen nur halb zu sich herüberziehen. Sie waren religiös und toleranter und lehnten seinen autoritären Führungsstil und seine Einstellung zum Islam, die strenge Auslegung, ab«, so Carl Triesch vom Völkerkunde-Museum.

 

Die meisten Tscherkessen leben heute in der Türkei

 

Neben Exponaten aus Privatbesitz finden sich auch russische Leihgaben. Gemälde, auf denen die »Kaukasische Gebirgseskadron« in Anwesenheit von Zar Alexander II. zu sehen ist. Diese im 19. Jahrhundert bestehende zaristische Schwadron nahm Kaukasier auf, die in der russischen Armee dienen, Karriere machen und nachher in der Heimat prorussisch agieren sollten. Der erste tscherkessische Literat und Völkerkundler Sultan Khan-Girey diente von 1828 bis 1837 in dieser Eskradon und hoffte, zwischen Russen und Tscherkessen vermitteln zu können.

 

In einem Blätterbuch der Schau ist seine Biografie genauso zu entdecken wie die des russischen Fotografen Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski, der Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Farbaufnahmen vom Kaukasus gemacht hat. Nach der Ankunft im Osmanischen Reich wurden die Tscherkessen in der Folgezeit in die Grenzregionen des Sultanats geschickt: ins heutige Syrien und Jordanien, den Irak, Israel, aber auch in den Kosovo.

 

Die Tscherkessen, die in ihrer Heimat Ackerbau und Pferdezucht betrieben hatten, sollten dort als Wehrbauern das Land kultivieren und für Ruhe sorgen. Nach dem Ende des Osmanischen Reichs blieben sie weiter in jenen Gebieten. In Jordanien stellen sie noch heute die Ehrengarde des Königs. In Syrien leben etwa 120.000 von ihnen. Die meisten, circa zwei Millionen Tscherkessen, sind aber in der Türkei.

 

In Russland verteilen sich 700.000 von ihnen auf drei Teilrepubliken: Auf Adygeja, Karatschai-Tscherkessien und Kabardino-Balkarien, wobei sie nur in der letzteren die Mehrheit stellen. Schwarzweiß- und Farb-, offizielle und private Fotos illustrieren die Lebenswege der Tscherkessen in den verschiedenen Ländern. Auf mehreren Schautafeln sind ihre Migrationsbewegungen von 1200 bis heute nachvollziehbar.

 

Wie betroffen sie von aktuellen Konflikten wie in Syrien sind, zeigt die Reportage »Einblicke in die Identitätswelt junger Tscherkessen heute« der deutsch-türkischen Soziologin Tunay Önder. »Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht« informiert die Besucher ferner über die Sprache, die Beziehung zu den Abchasen und über die Gastfreundschaft – »ein zentraler Bestand der tscherkessischen Kultur«, wie er in dem »Adyghe Xabze«, ihrem Verhaltenskodex geregelt ist.

 

Wohl um ihre hohe Bedeutung dem Besucher deutlich zu machen, steht in der Mitte der Ausstellung ein transparent gehaltenes Gästehaus, das früher am Eingang der Höfe stand: »Es war ein freistehendes Haus, um dem Gast Privatsphäre und Ruhe zu bieten. Ausgestattet mit Diwanen, Tischen, Bänken, Binsenmatten, Musikinstrumenten und geschmückt mit Waffen, war es das einzige repräsentative Gebäude in einem Hof.«

 

Das Verhältnis von Tscherkessen und Russen bleibt angespannt

 

Die Schau sensibilisiert nicht nur für die Geschichte und Kultur dieses Volkes, sondern auch für eine Region Europas, die nur selten in den Fokus deutscher Medien rückt. Wie angespannt das Verhältnis zwischen der russischen Führung und den Tscherkessen nach wie vor ist, haben die Winterspiele in Sotschi gerade wieder deutlich gezeigt. Die Tscherkessen sprechen bei den Ereignissen vom Mai 1864 von einem Völkermord und lehnten es ab, dass die Olympischen Spiele ausgerechnet an dem Ort stattfinden, der für sie eine nationale Tragödie symbolisiert.

 

Die Russen wollten das bisher nicht akzeptieren und verhinderten die Teilnahme der Tscherkessen an den Eröffnungsfeierlichkeiten. Nach Demonstrationen der Spiele-Gegner erhielten die Tscherkessen allerdings einen Pavillon, in dem sie Veranstaltungen in ihrer Heimatsprache durchführen konnten. Zudem, so ist auf einer Tafel in der Schau zu lesen, gibt es »Anzeichen dafür, dass sich die russische Regierung ihrer Versäumnisse bewusst wird«.

 

In einer vielbeachteten Rede im Nordkaukasus habe Dmitri Nikolajewitsch Kosak, russischer Vizepremierminister und zuständig für die Vorbereitungen der Winterspiele, am 16. Oktober 2013 vor Vertretern der Tscherkessen die Versöhnung angeboten und versprochen, »ihre Kultur bei den olympischen Feierlichkeiten angemessen zu würdigen«. »Die Russen wissen nicht, wie sie mit den Tscherkessen umgehen sollen«, sagt Gülay Gün, ebenfalls von der Projektleitung der Ausstellung.

 

Die Deutsch-Türkin mit tscherkessischen Wurzeln sagt aber auch, dass es einen Unterschied zwischen Moskau und den Lokalregierungen gebe. So hätten Tscherkessen mit der Erlaubnis der Teilrepublik Adygeja in der Hauptstadt Maikop ein Gästehaus eröffnen können: »Es dient als Hostel für Tscherkessen aus dem Ausland, die sich die Heimat ihrer Vorfahren ansehen. Es ist aber auch eine Anlaufstation für die, die sich dort wieder ansiedeln wollen.

 

Ehrenamtliche Helfer unterstützen sie beim bürokratischen Prozedere.« Die Rückkehr sei mühsam, aber möglich. Damit gewinnt die Ausstellung eine Aktualität und Brisanz, wie sie wohl auch beabsichtigt war. Doch auch unabhängig davon ist »Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht« einen Besuch wert. Gut aufbereitet, können sich Interessierte auf verschiedenen Wegen über das kaukasische Volk, seine Geschichte und Kultur informieren.

 

Tafeln und Blätterbücher, Gemälde und Zeichnungen, Karikaturen und Illustrationen, Fotos und Videos und eine Reihe sehenswerter, fast vollständig in Privatbesitz befindlicher Objekte geben einen vielschichtigen Eindruck. Ein Katalog liegt übrigens bisher nicht vor, soll aber in Kooperation mit der Universität von Naltschik, der Hauptstadt von Kabardino-Balkarien, noch entstehen.


»Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht. Ein legendäres Volk neu entdecken« ist noch bis zum 25. Mai 2014 im Hamburger Museum für Völkerkunde zu sehen.

www.voelkerkundemuseum.com

Von: 
Behrang Samsami

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.