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Aufarbeitung der Vergangenheit in Tunesien

Aufarbeitung vorerst ausgesetzt

Feature

Trotz lebenslanger Haft für Ben Ali verläuft die Aufarbeitung der Vergangenheit in Tunesien enttäuschend. Opferfamilien empören sich über milde Urteile – aber stoßen im Land gerade auf wenig Gehör.

Es sollte eigentlich ein Meilenstein in der Aufarbeitung Geschehnisse während der tunesischen Revolution werden. Am Abend des 13. Juni verkündete ein tunesisches Militärgericht, dass der frühere Präsident Ben Ali in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Im so genannten Märtyrerprozess wurde ihm und Vertretern der Sicherheitskräfte zur Last gelegt, für die gezielte Tötung von 22 Demonstranten in Thala, Kasserine, Kairouan und Tajerouine auf dem Höhepunkt der Repression des Volksaufstandes verantwortlich zu sein.

 

Bereits am Vortrag war der Präsident von einem Militärgericht wegen «Anstachelung zu Unruhen, Morden und Plünderungen auf tunesischem Staatsgebiet« zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte die Todesstrafe für Ben Ali und harte Strafen für die 22 Mitangeklagten gefordert. Das Gericht verurteilte den damaligen Innenminister Rafik Haj Kacem zu 12 Jahren Haft, rund 15 andere Vertreter der Sicherheitskräfte erhielten Haftstrafen zwischen fünf und zehn Jahren.

 

Allerdings wurde das Verfahren gegen zahlreiche, von den Familien der Opfer verhasste Schlüsselfiguren der Sicherheitskräfte eingestellt, darunter insbesondere Moncef Krifa, ehemaliger Generaldirektor des Innenministeriums, dem wichtigsten Instrument der Repression unter Ben Ali, und Moncef Laajimi, ehemaliger Leiter der Bereitschaftspolizei des Innenministeriums. Im Laufe der Verhandlung gab keiner der Beklagten zu, einen Schießbefehl auf Demonstranten gegeben zu haben.

 

Stattdessen gaben alle die Verantwortung hierfür Zellen des Innenministeriums, ohne konkret Namen zu nennen. Nach der Urteilsverkündung rügte Mohamed Rahimi, der Anwalt einer betroffenen Familie, den Ausgang der Verhandlungen scharf: »Die Strafen für vorsätzliche Tötung sind viel zu milde. So etwas hat man in Tunesien noch nicht gesehen!« Der Bruder eines der Opfer von Thala bebte vor Wut: »Die Revolution hat keine ihrer Ziele erreicht! Die Mörder sind frei! Wir werden die Familien der Märtyrer versammeln und nach Tunis marschieren!«

 

»Die Wahrheit wurde vergewaltigt«

 

Auf dem Fernsehsender Al-Jazeera äußerte sich Chaffereddine Kellil, auch er Anwalt einer betroffenen Familie, ähnlich. Die Gerichtsurteile entsprächen ihren Erwartungen. Die Militärjustiz hätte der Wahrheitsfindung nicht dienen können, denn entscheidende Beweise seien aus den Akten entfernt worden: »Die Wahrheit wurde vergewaltigt.« Auch äußert der Anwalt den Verdacht, dass das Gericht Druck von Seiten des Sicherheitsapparates ausgesetzt gewesen sei, das politische Gewicht der Angeklagten und den politischen Kontext zu berücksichtigen, um den politischen Frieden im Land zu bewahren.

 

Der Präsident des Tribunals weist diese Anschuldigungen von sich, das Gericht habe ein gerechtes Urteil gesprochen und keinerlei Druck von Institutionen erhalten. Die Anwälte haben dagegen angekündigt, in Revision zu gehen: »Solange wir die Wahrheit nicht kennen, können wir uns mit diesem Ausgang nicht zufrieden geben«, so Chaffereddine Kellil. Was ein Wendepunkt in der Aufarbeitung der Repression während der Revolution sein sollte, fällt in eine Periode politischer Unruhen.

 

Die Gerichtsurteile dieses sensiblen Dossiers, das seit einem halben Jahr vor dem Militärgericht in Kef im Westen des Landes verhandelt wird und seit Wochen erwartet wurde, wird überschattet von Straßenschlachten zwischen Salafisten und Ordnungskräften. Radikale Islamisten hatten zuvor die Kunstausstellung »Frühling der Künste« in La Marsa, einem noblen Vorort der Hauptstadt, verwüstet, da dort angeblich blasphemische Kunstwerke ausgestellt wurden.

 

Dann attackierten sie Regierungsgebäude, Polizeistationen, Gerichte und Büros der Staatsanwaltschaft. In acht Regionen wurde daraufhin eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Es ist nicht zu leugnen, dass von Salafisten abgebrannte Polizeistationen und geplünderte Parteizentralen die Aufmerksamkeit der Tunesier gerade weit mehr in Anspruch nehmen als das Gerichtsurteil.

 

Lebenslänglich für Ben Ali ist nur ein symbolisches Urteil, in den letzten Monaten wurde er zu insgesamt 66 Jahren Haft verurteilt, unter anderem wegen illegaler Bereicherung, Drogenhandels, Korruption und Amtsmissbrauchs. Doch der ehemalige Präsident ist im saudischen Exil und die dortige Regierung macht keinerlei Anstalten, den Auslieferungsanträgen Tunesiens Folge zu leisten. Tunesien ist zurzeit ein Land, zerrissen zwischen der Aufarbeitung der Vergangenheit und den Konflikten der Gegenwart.

Von: 
Johanne Kübler

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