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Anti-Erdogan-Proteste in der Türkei

Zurück auf die Straße

Feature

Der Tod eines Demonstranten wird zum Fanal für die Anti-Erdogan-Aktivisten. Kann der angekündigte »Herbst der Proteste« an die Gezi-Park-Proteste des Sommers anknüpfen?

Tränengas, Polizeisirenen, fliehende Menschenmassen, Brandgeruch in der Luft – eigentlich hätte jeder erwartet, dass es erst an diesem Wochenende wieder losgehen würde. Am 16. September beginnt in der Türkei das neue Semester und die Studenten, Hauptträger der Aufstände, kommen aus den Ferien zurück. Doch entgegen aller Vorraussagen begann der »Herbst der Proteste« früher als gedacht.

 

Zunächst ging es an der »Technischen Universität des Nahen Ostens« (»Orta Doğu Teknik Üniversitesi«, ODTÜ) in Ankara los. Die staatliche Eliteuniversität ist traditionell links eingestellt und der Regierung ein Dorn im Auge. Erst im Dezember hatte Premier Recep Erdogan die dortigen Studenten als Terroristen bezeichnet, nachdem sie gegen seinen Besuch protestiert hatten. Nun stellten sich die Studenten gegen einen Straßenneubau auf dem Campusgelände, es folgten Auseinandersetzungen mit der Polizei.

 

Weitere Protestkundgebungen schlossen sich an, überall im Land formierten sich Solidaritätsdemonstrationen mit den ODTÜ-Studenten. Bei einer Veranstaltung in Hatay im Südosten der Türkei kam ereignete sich ein siebter dramatischer Todesfall, nachdem im Rahmen der Proteste der vorherigen Monate bereits fünf junge Demonstranten und ein Polizist gewaltsam gestorben waren. Auch wenn Präsident Abdullah Gül im türkischen Staatssender TRT1 sogleich sein tiefes Bedauern über den Tod des 22-jährigen Ahmet Atakan ausdrückte und vollständige Aufklärung versprach, herrscht doch weiter Unklarheit über die Umstände.

 

Wie starb Ahmet Atakan?

 

Während Augenzeugen berichten, Atakan sei von einem Tränengaskanister der Polizei aus nächster Nähe an den Kopf getroffen worden, erklärte die Polizei, der junge Mann sei von einem Hausdach gefallen. Verschiedene staatliche Stellen erklärten im Besitz von Beweismaterial zu sein, das zeige, wie Atakan vom Hausdach falle und zudem belegen könne, dass anwesende Demonstranten die Versorgung durch einen herbeigerufenen Rettungswagen abgelehnt hätten.

 

Stattdessen hätten sie ihn selbst ins Krankenhaus bringen wollen – eine Verzögerung, die den jungen Mann das Leben gekostet haben könnte, so der Gouverneur der Provinz Hatay, Celalettin Lekesiz. Wie rein die Weste von Gouverneur »Fleckenlos« (so die deutsche Übersetzung seines Familiennamens) und der Polizei ist, wird jedoch von Seiten der Demonstranten vehement bezweifelt.

 

Dabei werden sie von Selim Matkap, dem Vorsitzenden der Hatayer Ärztekammer unterstützt, der gegenüber Reportern erklärte, nichts an den Verletzungen Atakans lasse darauf schließen, dass er von einem Dach gefallen sei; so gäbe es keine Anzeichen auf die sonst üblichen Knochenbrüche.  Im türkischen Fernsehen ist davon nicht viel zu sehen, stattdessen beherrscht Syrien af allen Kanälen das Programm. Das macht viele Demonstranten wütend: »Die Regierung will militärisch eingreifen, wir wollen das nicht! Warum weint unser Premierminister für jeden Toten in Syrien und Palästina, während im Fernsehen nicht mal gezeigt wird, was hier geschieht?«, so ein aufgebrachter Bürger.

Von: 
Charlotte Joppien

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