Die EU fürchtet im Zuge der Ukraine-Krise um seine Versorgung mit Erdgas. Die Lösung könnte in Algerien liegen. Spanien wittert die Chance, als Transitland zu profitieren – doch ein Nachbar schießt quer.
Wenige Tage vor seiner Wiederwahl Mitte April 2014 empfing Algeriens altes und neues Staatsoberhaupt Abdelaziz Bouteflika den spanischen Außenminister José Manuel García-Margallo. So diskret das Treffen über die Bühne ging, so folgenreich könnte es langfristig für die Zukunft Spaniens, Algeriens und der gesamten Europäischen Union sein. Nicht umsonst hatte sich der gesundheitlich stark angeschlagene Bouteflika nach Monaten der Abwesenheit wieder einmal vor die Fernsehkameras gewagt, um sich für eine knappe Unterredung mit seinem Staatsgast zu zeigen.
Hintergrund des Besuchs ist der Plan der beiden Mittelmeerländer, ihre Wirtschaftsbeziehungen auf dem Energiesektor zu intensivieren. Das heißt konkret, dass mehr Erdgas als bisher von Algerien nach Spanien fließen soll. Für die Spanier ist mit dem Deal die Hoffnung verbunden, gleich mehrere Probleme auf einen Schlag zu lösen und auf der europäischen Bühne nicht mehr nur als wirtschaftlicher Sorgenfall wahrgenommen zu werden: einen Weg aus der eigenen Wirtschaftskrise zu finden, die Angst um die Energiesicherheit innerhalb der EU angesichts der Ukraine-Krise zu zerstreuen und sich eine energiepolitische Vorreiterrolle in Europa zu sichern.
Profitieren würde das Land dabei von seiner geostrategischen Lage und der gut ausgebauten Infrastruktur. »Spanien verfügt über das sicherste und am meisten diversifizierte Gassystem in ganz Europa. Wir möchten unsere Kapazitäten dem gesamten europäischen Kontinent zur Verfügung stellen«, erklärte bereits Ende März Antonio Peris, Vorstandschef von Sedigas, dem Verband der spanischen Gasunternehmen. Kurz nach der Annexion der Krim begann sich damals bereits die Auseinandersetzung um den Status der Ostukraine abzuzeichnen.
Dank seiner hoch entwickelten Infrastruktur hatte Spanien die Versorgungskrisen 2006 und 2009 als einziges Land der EU nahezu unbeschadet überstanden. Aus dieser Erfahrung heraus konnte Madrid diesmal schon früh vor möglichen Engpässen warnen und für Alternativen zum russischen Erdgas werben, das zu 40 Prozent über die Ukraine fließt – sprich: für sich selbst. Salvador Gabarró, Präsident eines der wichtigsten spanischen Versorgerkonzerne, Gas Natural Fenosa, sieht sein Land durch die Ukraine-Krise gar auf dem Weg zum neuen »Tor nach Europa« auf dem Erdgassektor.
Diese Parole führten gleich mehrere Größen aus Politik und Wirtschaft im Munde, unter ihnen auch Ministerpräsident Mariano Rajoy. Und dies sicherlich nicht ohne Eigennutz, denn mit der Monopolstellung als Transitland würden große Profite für Spanien abfallen. Auch Marta Margarit von Sedigas hebt die einmaligen Chancen für die spanische Wirtschaft in der Krise hervor, wie der Deutschlandfunk die Sprecherin des spanischen Gasverbands zitiert: »Wir könnten als Transitland Gas aus anderen Staaten in die EU liefern und damit zumindest zwölf Prozent des Gasimports aus Russland ersetzen.«
Ist Spanien also wirklich die rettende Alternative für Europas Gassorgen? Dank eines hochgradig diversifizierten Energiesystems ist Spanien nicht von einem einzigen Lieferanten abhängig. Hier kommt dem Land seine inselartige Lage am Mittelmeer nahe dem afrikanischen Kontinent zugute. Aus diesem Grund bezieht Spanien überhaupt kein Erdgas aus Russland – im Gegensatz zu anderen EU-Staaten, von denen manche, etwa Finnland, zu hundert Prozent von russischen Lieferungen abhängig sind.
50 Prozent des nationalen Erdgasbedarfs Spaniens werden durch Lieferungen aus Algerien gedeckt, die überwiegend über zwei Pipelines ins Land gepumpt werden: »Medgaz« führt von Oran unter dem Mittelmeer hindurch direkt nach Almería, »MEG« (»Maghreb Europe Gaz«, auch bekannt als »Pedro Duran Farell«) nimmt den Umweg über Marokko und die Straße von Gibraltar bis nach Córdoba. Über MEG fließen jährlich 12 Milliarden Kubikmeter Gas ins spanische Netz, über Medgaz werden 8 Milliarden Kubikmeter eingespeist – eine Erhöhung auf 11 Milliarden ist vorgesehen.
Beide Pipelines haben ihren Ausgangspunkt im größten afrikanischen Erdgasfeld, dem Knotenpunkt des Pipeline-Netzwerks zwischen Afrika und Europa: Hassi R’Mel im Herzen Algeriens. Dieses Feld ist gleichzeitig der Endpunkt der geplanten Trans-Sahara-Pipeline »NIGAL«, die ab 2015 Nigeria via Niger über eine Strecke von 4.128 Kilometern mit Algerien verbinden soll. Nigeria verfügt weltweit über die neuntgrößten Erdgasreserven mit geschätzten 5,28 Billionen Kubikmetern. Algerien liegt mit 4,5 Billionen Kubikmetern direkt dahinter, im Mittelmeerraum führt das Land mit großem Abstand.
Die andere Hälfte seines Erdgases importiert Spanien als Flüssiggas (LNG, »Liquified Natural Gas«) per Schiff aus dem subsaharischen Afrika, dem Persischen Golf, Norwegen und der Karibik. Flüssiges Gas muss wiederaufbereitet werden. Zu diesem Zweck hat Spanien sieben große Hafenanlagen, »Regasificadoras«, bauen lassen, von denen aus das Erdgas über Leitungen weiterverteilt wird. Während des letzten Wirtschaftsbooms hat das Land mehrere Milliarden Euro in solche Infrastrukturprojekte investiert. Das könnte sich nun bezahlt machen – und Spanien eine neue Richtung auf dem Weg aus der Wirtschaftskrise weisen.
Nur ein kleines Teilstück fehlt, um das algerische Gasfeld Hassi R’Mel mit Mitteleuropa zu verbinden – doch ein Land tritt auf die Bremse
Wenn dem nicht eines im Wege stünde, ein »unüberwindbares Problem«, wie der spanische Außenminister García-Margallo bei seinem Treffen mit Bouteflika einräumen musste: »Wir können nicht mehr Gas aus Algerien beziehen, solange sich die innereuropäische Vernetzung nicht verbessert.« Die geostrategische Lage wird der Iberischen Halbinsel so gleichzeitig zum Verhängnis, denn die schlechte Anbindung an das restliche Europa und dessen unterentwickelte Infrastruktur machen aus ihr eine Gasinsel. »Wir wissen jetzt schon nicht, wohin mit den Überkapazitäten«, klagte García-Margallo.
Der gravierendste Engpass befindet sich an der Grenze zu Frankreich. Dem Nachbarn ist an besseren Verbindungen Spaniens mit Mitteleuropa eher weniger gelegen – nicht zuletzt auf Druck der französischen Energielobby, die die iberische Konkurrenz fürchtet. Für den Ausbau des europäischen Binnenmarkts müsste zunächst das »MidCat«-Projekt fertiggestellt werden, eine dritte Pipeline von Spanien nach Frankreich. Der Bau ist auf spanischer Seite praktisch abgeschlossen. »Frankreich hat allerdings noch nicht einmal begonnen«, bemängelt Sedigas-Generalsekretärin Marta Margarit. »MidCat« ist das kleine Teilstück, das noch fehlt, um das algerische Gasfeld Hassi R’Mel direkt mit Mitteleuropa zu verbinden.
Die rund 190 Kilometer lange Pipeline soll an der Mittelmeerküste entlang von Katalonien nach Südfrankreich verlaufen und gemäß den Planungen 7 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr transportieren. Aufgrund seiner strategischen Bedeutung hat die Europäische Kommission das Projekt bereits im Oktober 2013 auf seine Prioritätenliste PCI (»Projects of Common Interest«) gesetzt. Zwei weitere Pipelines führen über das Westende der Pyrenäen, allerdings ist bisher nur der Abschnitt »Larrau« auch wirklich in Betrieb.
Über diese Leitung strömen jährlich etwas über 5 Milliarden Kubikmeter Erdgas in Richtung Zentraleuropa, das ist gerade einmal ein Bruchteil des rund 450 Milliarden Kubikmeter hohen Gasbedarfs in der EU. Die Vollendung von »Biriatou«, dem dritten, nach einem baskischen Dorf benannten Pipeline-Abschnitt, ist für 2015 vorgesehen – er wird etwa 2 Milliarden Kubikmeter führen können. »MidCat« würde die Kapazitäten in Richtung Mitteleuropa also verdoppeln und ist aus diesem Grund von entscheidender Bedeutung für die Spanier.
Der europäische Bedarf an Erdgas könnte nach Schätzungen von Sedigas dann immerhin zu 3,5 Prozent aus Spanien gedeckt werden. Momentan sind jedoch noch nicht einmal die bestehenden Kapazitäten ausgelastet – weder die Pipelines noch die »Regasificadoras«. Grund dafür ist unter anderem der Rückgang des Energieverbrauchs infolge der Wirtschaftskrise. »Die Nachfrage nach Gas ist in Spanien in den letzten Jahren gesunken. Die Gaskraftwerke produzieren weniger Strom und verbrennen somit auch weniger Gas. Damit ist unser Gasnetz überdimensioniert«, konstatiert Margarit. »Es wäre also eine Win-Win-Situation. Spanien verfügt über unausgelastete Infrastruktur, die Europa benötigt.«
»Pseudosozialismus auf Erdgasbasis« oder »zuverlässiger Partner seit 40 Jahren«? Setzt Spanien mit Algerien auf das richtige Pferd?
Unterstützung für den Ausbau der Energieinfrastruktur und fehlender Verbindungsleitungen zwischen den Mitgliedstaaten kommt von EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Die Europäische Kommission hat im Rahmen des »Connecting Europe Facility«-Programms 750 Millionen Euro für grenzüberschreitende Energieprojekte ausgeschrieben. In einer Pressemitteilung erklärte Oettinger: »Ein so großer EU-Zuschuss wird etwas Konkretes bewirken. Die derzeitige Krise in der Ukraine macht deutlich, wie wichtig der Ausbau der Energieinfrastruktur und die Einrichtung fehlender Verbindungsleitungen zwischen den Mitgliedstaaten sind, um die Energieversorgungssicherheit in der EU zu verbessern.«
Der CDU-Politiker wirbt für eine gemeinsame europäische Energieaußenpolitik – lehnt eine Energie-Union jedoch ab. Die Bündelung des Gaseinkaufs in einer neuen EU-Agentur mit Einheitspreisen hatte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk vorgeschlagen – Polen bezieht 60 Prozent seines Erdgases aus Russland. Angesichts dieser neuen Prioritäten und Pläne aus Brüssel betrachtet Margarit die Ukraine-Krise als Glücksfall für die spanische Wirtschaft.
In einem Interview mit der spanischen Fachzeitschrift Crónica de Economía y Sociedad erläutert sie, welche Wohltaten der Handel mit Erdgas gesamtgesellschaftlich mit sich bringen würde: »Erdgas ist ein Schalthebel der Zukunft, es hat praktisch nur Vorteile für die Wirtschaft, die Umwelt und die Lebensqualität.« Der Gassektor schaffe durch eine enge Zusammenarbeit im Netzwerk zwischen kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Region Arbeitsplätze. Neue Infrastrukturen müssten errichtet, entsprechende Anlagen gebaut und das Ganze vermarktet werden.
Erdgas sei außerdem eine günstige Energiequelle, die sich auch positiv auf den Geldbeutel von Familien auswirken würde. Nicht zuletzt könne hiervon auch die Industrie profitieren, durch die Kraft-Wärme-Kopplung könnte sie zwischen 30 und 40 Prozent Energiekosten einsparen. Wird Spanien so künftig zum Gasexporteur aufsteigen? »Das hängt von zu vielen Faktoren ab, auf die Spanien keinen Einfluss hat«, schränkt Margarit ein. Skepsis wird von europäischer Seite vor allem gegenüber der zentralen Rolle Algeriens als wichtigstem Exporteur geäußert.
»Pseudosozialismus auf Erdgasbasis« nannte das Luxemburger Wort das algerische politische System kürzlich. Neben offenen Fragen der innenpolitischen Stabilität sorgen vor allem islamistische Extremisten von »Al-Qaida im Islamischen Maghreb« (AQMI) für Kopfzerbrechen. Im Januar 2013 überfielen sie die Gasraffinerie In Amenas nahe der libyschen Grenze und nahmen mehr als hundert einheimische und ausländische Mitarbeiter als Geiseln. Über 50 Menschen wurden bei einer Befreiungsaktion durch die Armee getötet. In Spanien spielen die Sicherheitsbedenken aber eine nachgeordnete Rolle. Algerien sei ein zuverlässiger Partner, schon seit über 40 Jahren, betont Margarit. Algerien habe immer geliefert – unabhängig von den politischen Umständen im Land.
Trotz der spanischen Pipeline-Träume: Algerien ist auf der Suche nach Alternativen für den europäischen Absatzmarkt
Kritiker bezweifeln jedoch, dass Algerien die Kapazitäten der Gasförderung auch in Zukunft konstant hoch halten oder gar noch ausbauen kann. Die konventionellen Erdgasvorkommen sind endlich, die Förderanlagen technisch veraltet, die Inlandsnachfrage steigt, neue Erdgasfelder müssen erschlossen werden. Das Fördermaximum wurde 2005 mit etwas über 88 Milliarden Kubikmetern erreicht. Seitdem sinkt die Förderrate kontinuierlich und dürfte nach dem Geiseldrama von In Amenas einen historischen Tiefstand erreicht haben, als die Anlage ihre Produktion – mit einer jährlichen Fördermenge von 9 Milliarden Kubikmeter – einstellte.
Doch sind die Kapazitäten tatsächlich gar nicht der Grund für gesunkene Exportraten, zumal mit den neuesten Regierungsplänen für Schiefergaserschließung durch Fracking ab 2020 die konventionellen Ressourcen künftig geschont werden könnten. Das Problem ist die sinkende Nachfrage aus Europa. 2013 ist der Gasimport über Pipelines aus Algerien im Vergleich zum Vorjahr von 34 auf 28 Milliarden Kubikmeter geschrumpft – ein Rückgang von 18 Prozent. Auch das Exportgeschäft von Flüssiggas nach Europa erlebte einen – vergleichsweise kleinen – Einbruch um knapp 3 Prozent: von 15,3 auf 14,9 Milliarden Kubikmeter.
Im gleichen Zeitraum konnte der russische Monopolist Gazprom seine EU-Exporte um 16 Prozent steigern. Das war freilich vor der Ukraine-Krise. Die große Abhängigkeit von Russland ist also hausgemacht und zeugt mit Blick auf die vorangegangenen Ukraine-Krisen und Versorgungsengpässe von energiepolitischer Kurzsichtigkeit. Algerien reagiert derweil auf die schrumpfende Nachfrage aus Europa und orientiert sich angesichts der grundlegenden Veränderungen des weltweiten Gasmarktes einfach in eine andere Richtung: gen Asien, wo die Nachfrage nach Energie unverändert steigt