Lesezeit: 10 Minuten
Ägypten zwischen Polarisierung und Konfrontation

Demokratie braucht Zeit

Kommentar
von Hoda Salah

Trotz Polarisierung und Konfrontation führt Ägyptens Weg nicht zwangsläufig in den befürchteten Bürgerkrieg. Denn es gibt einen dritten Weg für eine friedliche Lösung, meint Politikwissenschaftlerin Hoda Salah.

Die einseitige Verurteilung von Gewalt durch die Armee –  nicht aber zugleich der Muslimbrüder – seitens des Westens und die Sanktionsdrohungen gegen den ägyptischen Staat deuten auf eine mangelnde Kenntnis der inneren Konflikte in Ägypten hin – und verstärken die antiwestliche Haltung vieler Ägypter. Es geht nicht nur um einen Machtkonflikt zwischen der Armee und den Muslimbrüdern, sondern zwischen vielen politischen Strömungen und Volksgruppen gegeneinander.

 

Ebenso irreführend ist die Annahme eines religiösen Kampfes zwischen Islam und Demokratie. Im Gegenteil, sehr viele gläubige Muslime lehnen diese Politisierung der Religion seitens der Muslimbrüder und der Salafisten ab. Es geht um die Identität des neuen Ägypten: islamisch, militaristisch oder demokratisch multikulturell. Ägypten ist polarisiert: Entweder für die Armee oder für die Muslimbrüder.

 

Gegner und Befürworter verteufeln sich gegenseitig, ebenso wie die Anhänger desselben Blocks, wenn sie über friedliche oder gewaltsame Lösungen debattieren. Familien, Freunde, ganze Nachbarschaften sind gespalten. Jede Strömung spricht vom Willen des Volkes und von Menschenrechten – und meint damit nur die eigenen Leute. Die politische Kultur in Ägypten ist teilweise rassistisch, intolerant und gewaltbereit: Die meisten Menschen, egal welcher Richtung sie angehören, sind für eine gewaltsame Lösung, die zum schnellen Sieg über den Gegner führt, der als Feind der Nation gilt – und nicht als oppositioneller Partner.

 

Mursi-Anhänger werden als gehorsame Schafe und religiöse Faschisten bezeichnet, Anhänger der Armee als Ungläubige oder Militärfaschisten beschimpft. Die Lage ist äußerst besorgniserregend. Politische Morde an Oppositionellen, Konfessionskonflikte und Verbrechen an Minderheiten wie Christen und Schiiten nehmen zu. Kirchen, Moscheen, aber auch Polizeistationen werden in Brand gesetzt, verfeindete Gruppierungen liefern sich Straßenschlachten.

 

Die Opferzahlen unter Zivilisten, aber auch unter den Soldaten, sind sehr hoch. Wut, Angst und Depression machen sich in weiten Teilen Ägyptens breit. Die terroristische Anschläge auf dem Sinai und die aggressive Gegenwehr des Militärs gegen die Bewohner Sinai könnten zu ethnischen Konflikten führen und damit die Sicherheit des ganzen Landes bedrohen. Der ägyptische Staat ist schwach und vom Zerfall bedroht.

 

Die Übergangsregierung, Armee und Polizei können die aktuellen Herausforderungen und den allgegenwärtigen Hass nicht bewältigen, weil sie selbst Teil der Gewalt sind. Innerhalb Ägyptens gibt es im Wesentlichen drei Gruppen, die die aktuellen Auseinandersetzungen ganz unterschiedlich bewerten: Unterstützer der Armee, Anhänger derMuslimbrüder – und eine alternative Strömung als »Dritter Weg« für eine politische statt militärische Lösung. Diese dritte Strömung wendet sich gegen den religiösen Staat und gegen den Militärstaat und erstrebt einen demokratischen Zivilstaat in Sinne der Revolution. 

 

Mit seinem Auftritt im Kairoer Stadion hat Mursi viele Ägypter verschreckt

 

Die Mehrheit der Ägypter, darunter viele Linke, Liberale und die Gesamtheit der Medien, koalieren neuerdings mit ihrem ehemals verhassten alten System – einschließlich der Armee –  gegen die Muslimbrüder. Bei der zweiten Runde der ersten Präsidentschaftswahlen nach der Revolution hatten diese Gruppen dem Muslimbruder Muhammad Mursi noch zum Sieg gegen den Armeegeneral Ahmad Schafik verholfen, um der Herrschaft des Militärs ein Ende zu setzen.

 

Der grundlegende Einstellungswandel und das Entstehen dieser Koalition haben verschiedene Ursachen. Die Muslimbrüder haben viele Ägypter in Angst vor einem Krieg und Konfessionskonflikten versetzt. Für sie erscheinen die Muslimbrüder mittlerweile gefährlicher als das verhasste Ancien Régime. Dass viele Ägypter die Muslimbrüder mit Gewalt beseitigen wollen, hat zudem einen ganz speziellen Grund: Noch einige Wochen vor seiner Absetzung hatte sich Mursi bei einer Großveranstaltung im Kairoer Stadion Hand in Hand mit dem Dschihadisten Abbud al-Zumar, der am Attentat an Anwar al-Sadat beteiligt war, sowie anderen fundamentalistischen Religionsführern gezeigt.

 

Er ließ sie Reden halten, in denen sie vor Millionen Fernsehzuschauern ägyptische Oppositionelle als Feinde Ägyptens beschimpften und Gott um deren Vernichtung baten. Mursi schwieg dazu. Mursis Scheichs schimpften auf das »schiitische System, das die Sunniten tötet«. Schiiten seien Abtrünnige vom Islam und die Syrer dürften auf Unterstützung durch zahlreiche ägyptische Kämpfer zählen, die alle bereit zum Märtyrertod seien. Mursi lächelte und schwieg.

 

Zwei Tage später wurden vier ägyptische Schiiten im religiösen Eifer von hunderten Ägyptern grausam getötet. Christen und andere Minderheiten werden bedroht und aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben. Mit dem Auftritt im Stadion hat Mursi die meisten Ägypter, einschließlich Armee und Polizei, alarmiert, die Krieg, Terror und Selbstmordanschläge mehr als je zuvor fürchten. Und die Linken haben Angst, dass Mursi sie hinrichten lassen könnte – so wie es schon Khomeini 1979 mit seinen einstigen linken Unterstützern tat.

 

Die Mehrheitsmeinung in Ägypten plädiert für eine neue Zusammenarbeit mit Armee und Polizei – und mit dem alten politischen System

 

Armee, Polizei, Medien und Justiz warengleichermaßen der Meinung, dass Mursi Ägypten wirtschaftlich ruinieren und internationale Kriege sowie innenpolitisch konfessionelle Konflikte in Gang setzen könnte. Auf Demonstrationen und bei emotionalen öffentlichen Debatten zeigen Millionen Ägypter, dass sie die Muslimbrüder inzwischen für eine fanatische Sekte halten: Mursi sei ein Sektenführer, aber nicht der Präsident aller Ägypter. In Zeitungen und öffentlichen Debatten wird Mursi mit Hitler verglichen.

 

Beide seien zwar legal gewählt worden, hätten aber die Demokratie untergraben. Mursi müsse also gestoppt werden, bevor er Ägypten wie Hitler seinerzeit Deutschland und andere Länder ruinieren könne. Vertreter dieser Strömung meinen, die Armee fühlte sich ermächtigt, gegen die Muslimbrüder vorzugehen, Mursi abzusetzen – und damit den Volkswillen zu erfüllen: 30 Millionen Demonstranten hatten ihren Widerstand gegen den politischen Islam und die Instrumentalisierung der Religion durch die Muslimbrüder gezeigt.

 

Die Armee-Anhänger vertreten die Ansicht, dass der Machtwechsel kein Militärputsch gewesen sei, schließlich habe die Armee die Macht an eine zivile Übergangsregierung abgegeben. Demnach werde die Armee nicht die Fehler aus der Vergangenheit wiederholen, die Bevölkerung schützen und ihr zur Demokratie verhelfen. Die Mehrheitsmeinung in Ägypten plädiert für eine neue Zusammenarbeit mit Armee und Polizei, sogar mit dem alten politischen System.

 

Die Wenigen, die zugleich für einen friedlichen Ausgleich mit den Muslimbrüdern plädieren, gelten als lasch, realitätsfern oder gar als westliche Spione. So wurde Nobelpreisträger und Ex-Vizepräsident Mohammed El Baradei, der sich zunächst auch auf die Seite von General Al-Sisi gestellt hatte, selbst von den eigenen Anhängern hart kritisiert, weil er die Armee zu Verhandlungen drängte, anstatt der militärischen Lösung zuzustimmen.

 

Der Diskurs der Muslimbrüder schlägt zwei unterschiedliche Richtungen ein

 

Auf der anderen Seite steht die zweite Strömung, eine Minderheit von etwa 10 Millionen Ägyptern, die sich zu Mursi und den Muslimbrüder bekennen. Einige Tausend von ihnen versammelten sich bis Mitte August auf dem Rabaa-al-Adawiyya-Platz nördlich von Kairo. Sie verwiesen darauf, dass Mursi legal und demokratisch gewählt und durch einen Militärputsch abgesetzt worden sei – und dass nun wieder dem Recht Geltung zu verschaffen und Mursi in seiner alten Funktion wieder einzusetzen sei.

 

Der Putsch und die folgenden Armeemassaker hätten sich gegen den Islam als solchen gerichtet, so die Meinung einiger. Andere Mursi-Anhänger gestehen zwar Fehler ein, fordern aber eine zweite Chance für den Ex-Präsidenten. Mursi hätte Wahlen oder einer erneuten Volksabstimmung über seine Macht früher zustimmen müssen, lautet ein Vorwurf. Der Diskurse innerhalb des Mursi-Lagers wandelt sich indes. Zunächst galt der Coup als gegen Schlag gegen den Islam, während inzwischen häufiger von einem »Putsch gegen die Revolution« die Rede ist.

 

Die Vertreter dieser Strömung stellen sich nicht als Angreifer, sondern als Verteidiger und als friedliche Demonstranten dar. Sie rufen zu einem »friedlichen Streik« auf, lassen sich und ihre Kinder aber zugleich in Totentücher wickeln und beschwören auf Märschen entweder den Sieg oder den Märtyrertod. Solche Bilder machen vielen Ägyptern Angst und lassen sie die Augen vor den Opfern auf Seiten der Mursi-Befürworter verschließen. Als die Muslimbrüder versucht hatten, das Hauptquartier der Republikanischen Garde zu stürmen, tötete die Armee rund 50 bis 200 ihrer Anhänger.

 

In Ägyptens Medien wurde ihnen die Schuld dafür gegeben, schließlich seien sie – trotz aller Warnungen – zu nah an das Gebäude herangekommen. Ähnlich verhielt es sich beim Sturm der Armee auf das Rabaa-Camp, an dessen Ende 600 Tote und um 5000 Verletze zu beklagen waren. In der hitzigen Presseschlacht wurden die Muslimbrüder als Angreifer und Kinderschänder dargestellt. Die Islamisten hätten, so der Tenor, die Tötungen selbst angeordnet, um – gerade auch international – Sympathien zu gewinnen.

 

Ägyptische Menschenrechtsorganisationen verlangen von Armee und Polizei, auf brutale Gewalt zu verzichten. Zugleich fordern sie von den Muslimbrüdern, ihre Hasspredigten und Angriffe gegen Christen und politische Gegner einzustellen und den Terror auf dem Sinai zu verurteilen. Mohamed al-Beltagi, führendes Mitglied im »Büro für Rechtleitung« der Muslimbrüder, ließ dagegen verlautbaren, dass die Anschläge in Sinai erst aufhören würden, wenn Mursi wieder an die Macht käme.

 

Ein unkluger und unsensibler Schachzug, der dem Vorwurf der Kollaboration von Muslimbrüdern und Terroristen neue Munition liefert. Eine dritte Strömung, eine verschwindend geringen Minderheit, präsentiert sich als Alternative zu diesen beiden Polen. Die meisten Anhänger dieser Strömung sind ehemalige Muslimbrüder und Salafisten, daneben auch Liberale, Konservative und Linke aus dem kommunistischen, nasseristischen und sozialistischen Lager.

 

Sie befürworten den Sturz der Muslimbrüder, die im Falle eines Machterhalts Ägypten in Kriege, konfessionelle und wirtschaftliche Krisen geführt hätten, kritisieren aber, dass die Armee erneut einen Volksaufstand an sich gerissen und die Revolution unterbrochen habe. Die Mehrheit der Ägypter hätte besser weiter gegen die Muslimbrüder demonstrieren sollen und sie durch Generalstreiks zum Rücktritt zwingen sollen. Nach dem Eingreifen des Militärs aber hätten sich die Muslimbrüder als Opfer eines Militärputschs inszenieren können. Zudem sei die Armee eine antidemokratische und antirevolutionäre Kraft, auf deren Konto viele Opfer seit der Revolution gingen.

 

Ein Putsch – nicht gegen Mubarak oder Mursi gerichtet, sondern gegen die Revolution

 

Die Übergangsregierung aus Armee und Polizei könne der aktuellen Herausforderungen und des allgegenwärtigen Hass nicht Herr werden, weil ihre Vertreter selbst für Gewalt stünden. Diese dritte Strömung wendet sich daher gegen den religiösen und gegen den Militärstaat – und plädiert für einen Zivilstaat und einen friedlichen Ausweg aus der Notlage. Das ägyptische Volk solle demnach für eine neue Übergangsregierung eintreten – gegen die Muslimbrüder, gegen das alte System, gegen die Armee und den noch immer nicht reformierten Polizeiapparat.

 

Verhandlungen und Dialoge müssten zwischen den Vertretern aller Strömungen stattfinden. Die Armee solle sich auf den Grenzschutz konzentrieren und der Regierung unterstellt sein – und nicht umgekehrt. Die Einmischung der Armee sei Putsch gewesen – nicht gegen Mubarak oder Mursi gerichtet, sondern gegen das Volk und seine Revolution. Die Armee wolle das Volk unter Kontrolle halten. Die Vertreter dieser Strömung plädieren für eine gerechte Transformation, in der Anhänger aller Strömungen, die zu Gewalt aufgerufen oder sie ausgeübt haben, vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden – nicht nur die Generäle, sondern auch die Muslimbrüder.

 

Alle anderen Kräfte sollten in den demokratischen Prozess eingebunden werden – auch friedliche Islamisten. Dem gegenüber vertreten die meisten Ägypter die Ansicht, dass Neutralität zurzeit keine Option sei. Jeder müsse sich entscheiden: Wer für die Armee ist, dürfe die massive Gewalt gegen die Muslimbrüder nicht kritisieren. Wer auf Seiten der Muslimbrüder steht, solle lieber über die Hetze gegen politische Gegner, Christen und Schiiten hinwegsehen.

 

Ein Wandel nicht nur im politischem System, sondern auch in der Gesellschaft

 

Dennoch gibt es Anlass zur Hoffnung. Ägypten hat binnen drei Jahren zwei autoritäre Systeme zu Fall gebracht. Es handelt sich also eben nur oberflächlich um einen Kampf um Islam oder Demokratie. Es geht vorwiegend um die neue Identität des Landes, sowie weiterhin um soziale Gerechtigkeit und die Beseitigung von Ausbeutung und Armut. Selbst die Mursi-Anhänger sprechen vom Wunsch nach Wohlstand und Demokratie.

 

Gleichzeitig hat die Mehrheit des Volkes dem Mythos des politischen Islams, demnach der Islam die Lösung für alle Probleme sei, ein Absage erteilt. Eine Revolution ist immer ein Prozess und die ägyptische Revolution steht noch ganz am Anfang. So vollzieht sich nicht nur ein Wandel im politischen System, sondern auch in der Gesellschaft, zwischen den Generationen, Geschlechtern und Klassen.

 

Millionen von Ägyptern und Ägypterinnen, jung und alt, aus allen Klassen der Gesellschaft gehen auf die Straße, kämpfen für ihre wirtschaftlichen und politischen Ziele, organisieren sich, bilden Parteien, Berufsgenossenschaften, Gewerkschaften und Institutionen der Zivilgesellschaft. Frauen jeglicher politischen Richtung und Klassen zeigen im öffentlichen Raum Präsenz, übernachten in Zelten, diskutieren und verteidigen ihre Rechte. Sie brechen frühere Tabus, kritisieren offen sexuelle Belästigung, die es auch vor der Revolution gab. Dieser Wertewandel und dieses Einfordern politischer Teilhabe beeinflusst die politische Kultur der Gesellschaft. Demokratie braucht Zeit.


Hoda Salah arbeitet als freiberufliche Politikberaterin und pendelt seit der Revolution zwischen Berlin und Kairo. Zuvor war die deutsch-ägyptische Politikwissenschaftlerin wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients an der Freien Universität Berlin. Zu Ihrer Schwerpunkten gehören Islamismus, Transformaitonsprozesse und Frauenrechte.

Von: 
Hoda Salah

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.