Das Medienecho zu den heutigen Flüchtlingsbewegungen ist voll mit epischen Vergleichen. Eric-Emmanuel Schmitt ist diesem Tenor mit seinem neuen Buch weit vorausgeeilt. Was uns ein Mythos in diesen irrlichternden Zeiten zu sagen vermag.
Wer die Reise der Flüchtlinge, die sich momentan wie ein Strom ihren Weg durch Europa bahnen, episch als »Odyssee« bezeichnet, liegt voll im Trend. Keine Tageszeitung oder Nachrichtensendung, die in ihren Beiträgen der letzten Wochen nicht dieses geflügelte Wort verwendet hätte. Selbst manche Politiker führen es bereits im Munde, wenn sie auf das Schicksal der Ankommenden zu sprechen kommen. Fast klingt dann so etwas wie Empathie und Anerkennung in diesem Vergleich: Der Flüchtling – ein Odysseus.
Die Wiederbelebung eines Mythos vollzieht sich vor unser aller Augen. Ist das nicht der Stoff aus dem packende Romane gewoben werden? In der Tat, und niemand anderes als der international reüssierende französische Romancier Eric-Emmanuel Schmitt hat sich dieses Themas angenommen. Der Titel seines Werkes: »Odysseus aus Bagdad«. Bereits 2009 im französischen Original erschienen, wurde es bereits in 13 Sprachen übersetzt, ehe in diesem Jahr die deutsche Ausgabe folgte.
Die Konstellation der Protagonisten entspricht daher auch der damaligen Aktualität: Die Handlung entspinnt sich um einen jungen Iraker, Saad Saad – dessen Name auf Arabisch doppeltes Glück bedeutet, auf Englisch zweifache Traurigkeit. Aus nackter Hoffnungslosigkeit, die Saad als einzigen männlichen Agnaten im von Bomben zerstörten und sektiererischen Milizen zersplitterten Bagdad überleben lässt, flieht er einer verpassten Zukunft in Europa entgegen. Nicht zuletzt, um seiner zurückbleibenden Mutter und seinen Schwestern ein Auskommen zu verschaffen.
Der emphatische Verlauf der Flucht reflektiert das humanitäre Versagen des befestigten Europas
Die Etappen von Saads Odyssee sind teils wahnwitzig rasant erzählt, einer Heroisierung gemäß dem griechischen Vorbild verwahrt sich Schmitt. In der humorigen Art, in der er auf das homerische Epos anspielt, wird die ernste Lage des jungen Flüchtlings in ihrer ganzen Tragweite tatsächlich nachempfindbar: als Drogenkurier der Lothophagen durch die Wüste nach Ägypten, im Schlepptau rockender Sirenen nach Libyen, im Angesicht eines zyklopischen Asylbeamten auf Malta, dann Rettung und vorübergehende Geborgenheit durch Nausikaa am Strand von Sizilien.
Der Schwung seiner Erzählkunst reißt die Leser in dieses durch alle Zeiten wiederkehrende Schicksal eines Heimatvertriebenen hinein. In dem emphatischen Verlauf der Flucht reflektiert der Autor darüber hinaus das humanitäre Versagen des befestigten Europas und seiner Gesellschaften. Zum Ausdruck bringt Schmitt hier eine Philosophie, die als erstes den Anderen anerkennt und wertschätzt, ehe sie die eigene Freiheit zu verteidigen sucht. Eine Ethik, die in Frankreich stets ein höheres Renommee genoss als hierzulande.
Die deutsche Übersetzung des »Odysseus aus Bagdad« ist auch darum so wertvoll, da sie uns diese Perspektive eröffnet. Denn letzten Endes ist alles ganz anders, als es uns Tageszeitungen, Nachrichtensendungen und Politiker weismachen wollen. Saad, der Flüchtling, sagt es so: »Ich bin zwar gereist und auf meiner Reise Tausenden von Hindernissen begegnet, aber ich bin das Gegenteil von Odysseus geworden. […] Er wusste, wo sein Platz war, ich suche danach.« Die existenzielle Frage bleibt offen: Bilden die Grenzen, die der Odysseus der Gegenwart überwindet, das Bollwerk unserer Identität oder vielleicht den letzten Mantel, um unsere Illusionen zu schützen?
Odysseus aus Bagdad
Eric-Emmanuel Schmitt
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
Fischer Taschenbuch, 2015
304 Seiten, 9,99 Euro